"Medienkritik"
Medienkritik, Literaturkritik oder Quellenkritik? Denn das ist etwas massiv unterschiedliches! Von Quellen spricht man nämlich nur, wenn man von Texten, Gegenständen oder Tatsachen spricht, die unabänderlich sind und deren Interpretation zur Gewinnung von Kenntnissen taugt. Alles andere ist Literatur! Wikipedia kann eine Quelle sein, wenn es um Wikipedia selbst geht, ansonsten ist Wikipedia nichts anderes als Literatur, die meist Literatur und selten Quellen betrachtet. Als Literatur ist Wikipedia massiv dem Blickwinkel des oder der Autoren unterworfen, und auch wenn sich viele Autoren bemühen möglichst viele Blickwinkel zu beschreiben, sind sie per Definition an einen Blickwinkel gebunden, der sich aus der betrachteten Literatur und der betrachteten Quellen speist. Und Wikipedia hat ein Problem, dass es als wissenschaftliche Literatur selten tragbar macht, aber dazu später.
Auch Quellen enthalten einen Blickwinkel. Bei der Quellenkritik ist immer relevant wann, wer, was produziert hat und ein wichtiger Punkt ist dabei zu ergründen warum er/sie das gemacht hat. Nehmen wir als Beispiel einfach mal "NSA 01933". Das ist eine Akte im Neuen Senats Archiv zu Lübeck, die den Titel Lübeck, Akten des Senats betreffend Epidemisches Auftreten der Influenza trägt. Auf dem Deckblatt wurde die Laufzeit zunächst mit 1890-1895 angegeben, dann mit hellblauer Tinte auf 1920 geändert, mit derselben Tinte wurde auch der Vermerk „Spanische Grippe“ an den Titel angefügt. Wer hat also wann diese Akte wo in welchem Kontext angelegt? Wer ist - nur vom Deckblatt her - eine oder mehrere Personen im Auftrag des Senats der Stadt Lübeck. Ebenso ist durch die Änderung des Titels und des Zeitraumes offensichtlich, dass die Quelle in zwei Abschnitten entstanden ist: einmal Ende des 19ten Jahrhunderts, dann ein Nachklapp Anfang des 20sten. Das Warum lässt sich aus der Art erschließen, was in der Akte ist: die erste Hälfte sind vor allem Aufzeichnungen zu den Auswirkungen der Grippeepidemien, also Statistiken, für den anderen Teilzeitraum sind vor allem Sitzungsunterlagen und -vorlagen des Senats vorhanden. Der Zweck ist aber in beiden Fällen die Erhaltung von diesen Dokumenten für nachfolgende Senate, eine Dokumentation der Vorfälle. Der Blickwinkel der Dokumente in der Quelle ist an die Urheber der einzelnen Dokumente gebunden, jedes Dokument trägt seinen Urheber in der einen oder anderen Form notiert.
Bei Literatur lässt sich meist der Blickwinkel noch recht leicht entdecken, daran wer den Artikel schreibt und was er beschreibt. Aber der Wert von Literatur wird nicht nur durch den Inhalt bestimmt, sondern dadurch wie andere diesen Text rezensieren. Und hier kommt das Problem der Wikipedia zu Tage: Während moderne Fachliteratur über das "peer Review" Verfahren Überprüfung und Bewertung findet und bestimmten Standards zu Zitationsmaßstäben genüge tun muss, nimmt Wikipedia die Fakten häufig ohne korrekte Referenzen und ist im allgemeinen nicht zitierfähig, da es eben nicht dem peer review Prozess unterzogen ist.
Jeder kann in der Wikipedia alles ändern und es ist nur der freiwilligen Arbeit vieler unterschiedlicher Menschen geschuldet, dass die Inhalte einem self-review Prozess unterzogen werden. Eine Trennung zwischen Autor und Rezensent existiert nicht - das Kollektiv der Mitmachenden ist der Autor, das Kollektiv überprüft sich selbst und ist nicht der Überprüfung durch die Forschung unterworfen. Es ist die Aufgabe des Kollektivs seine eigenen Standards zu halten und umzusetzen. Aber das Kollektiv erzeugt 500 Änderungen in weniger als 18 Minuten, oder hochgerechnet etwa 1700 Änderungen pro Stunde. Das sind 41000 Änderungen pro Tag. Einige sind nur minimal, andere sind komplette Umschriften oder Neuschriften. Jedes Review kostet Zeit, Zeit die jemand freiwillig darangeben möchte, und die länger ist als nur die Änderung nachzuvollziehen oder zu überprüfen. Eine Überprüfung auf den Inhalt hin erfordert die Literatur dazu zu lesen oder mit dem Gegenstand vertraut zu sein - und das heißt meist, dass nur eine Handvoll des Kollektivs in der Lage ist die meisten Artikel sinnvoll zu schreiben und nur dieselbe Handvoll auch sinnvoll Reviews desselben durchzuführen - und das führt dazu, dass viele Überprüfungen nur der Form nach gemacht werden. Inhaltliche Fehler fallen zum Teil erst Wochen oder sogar Jahren auf.