Savanne in der Abendkühle: Probekapitel

  • Hier findet ihr den Prolog und die ersten sechs Kapitel von Savanne in der Abendkühle. Alles weiteren Infos zum Buch stehen hier: http://www.pride-lands.org/sho…vanne-in-der-Abendk%FChle


    Beachtet bitte, dass der Text für das Taschenbuchformat formatiert wurde, deswegen lässt er sich in dieser Form nicht ganz so gut lesen.


    Trotzdem wünsche ich viel Spaß beim Lesen!





    Savanne in der Abendkühle




    Wenn die Finsternis alles verdunkelt hat, werden Kinder des Lichts die Sterne anzünden.
    - Unbekannt





    Prolog



    Unerbittlich wirft die Sonne ihre grellen, heißen Strahlen auf den trockenen Boden des Savannenlandes. Im Namen Mutter Naturs gebietet sie über Leben und Tod, lässt Samen sprießen und Pflanzen gedeihen, um sie nur Augenblicke später wieder verwelken zu lassen. Sie quält uns und spendet uns doch Trost im Angesicht unserer Qualen. Sie führt uns entlang unseres geschwungenen Pfades hinauf auf die höchsten Gipfel und hinab in die tiefsten Klüfte.
    Als nur eines ihrer unzähligen Kinder erscheinen meine Zeit und meine Taten unbedeutend. Sie verblassen förmlich im Angesicht des immerwährenden Glanzes, kaum Wert, jemals Erwähnung zu finden. Sehe ich heute in den saphirblauen Himmel, so erkenne ich verschwommen dieselbe helle Scheibe, die ich erblickte, als ich zum ersten Mal meine Augen öffnete. Vieles hat sich seither verändert. Nur sie nicht. Sie ist ganz die alte, unveränderlich, unberührbar, was auch immer geschehen mag. Sollte heute der Tag gekommen sein, an dem ich sie zum letzten Mal erblicke, so tue ich es nicht mit Reue. Mit Bedauern vielleicht, Bedauern für das, was ich nicht im Stande war zu verhindern und mit Sorge in Anbetracht dessen, was womöglich noch geschehen mag. Aber niemals mit Reue.
    Dies ist meine Geschichte. Eine Geschichte voll Trauer und Schmerz, vom Blut, das den Savannenboden rot färbte und von der unstillbaren Gier und dem Durst nach kalter Rache. Aber es ist auch eine Geschichte von Freundschaft, Mitleid und der Hoffnung, dass all unser Streben und all unsere Mühen letztendlich nicht vergeblich sind. Es ist die Geschichte einer Löwin.
    Es ist meine Geschichte.


    Die Geschichte beginnt mit einem Sturm. Keinem gewöhnlichen, leichten Unwetter, sondern einem tropischen Orkan von gewaltigen Ausmaßen. Wie ein schwarzer Vorhang schob sich die unheilvolle Wolkendecke bis über die Berge von Milima Kubwa. Dort entfesselte sie die Macht und den unbändigen Zorn von Mutter Natur. Tosende Winde peitschten und zerrten an den Kronen der Bäume, Blitze zuckten in bizarren Formen über den hell auflodernden Himmel und markerschütternder Donner brachte die Erde zum Beben. In Ehrfurcht und durchnässt vom unaufhörlichen Regen kauerten die Löwen des Bergrudels dicht beisammen und harrten aus. Der Sturm entwurzelte Bäume und flutete Täler, er verlangte uns unsere ganze Standhaftigkeit ab. Doch er verging ebenso rasch, wie er aufgezogen war.
    Als die Wolkendecke sich allmählich zerstreute und der Regen nachließ, wärmten milde Sonnenstrahlen unser Fell. Zögerlich wagten wir uns aus unseren Verstecken hervor, um das Ausmaß der Verwüstung zu betrachten. Mutter Natur war, in all ihrer Zerstörungswut, gnädig zu uns gewesen. Keinem der Rudelmitglieder war etwas zugestoßen. Es schien, als habe sich eine höhere Macht schützend über uns gestellt und uns vor dem wütenden Übel bewahrt. In den folgenden Tagen konnte das Leben wieder seinen gewohnten Lauf nehmen. Es gab nun andere Dinge, die uns Sorgen bereiteten.
    Und doch... obwohl die schwarzen Wolken an diesem Tag weitergezogen waren, um ihren Zorn an andere Orte zu bringen, war etwas geblieben. Eine kaum spürbare Unruhe. Als ob der Sturm lediglich der Stein des Anstoßes gewesen war, der zu einer Kette von Ereignissen führen und schließlich eine ganze Lawine des Schreckens auslösen würde.


    Hätte ich anders gehandelt, wenn ich gewusst hätte, was geschehen würde? Vermutlich. Denn diese Geschichte hat mich eines gelehrt: Nur wer wachen Auges durch das Leben geht, erkennt die Zeichen, die die Welt für uns bereit hält.






    Erster Teil






    Zeichen



    Regenwürmer. Da waren sie. Unbeholfen tummelten sie sich in der feuchten Erde. Es waren erstaunlich viele. Zehn, zwölf, vielleicht mehr.
    Mit Pfote und Schnauze schob Nia den Stein, den sie zuvor nur angehoben hatte, nun vollständig beiseite. Sie sah, wie er sich ein, zwei Mal auf dem erdigen Untergrund überschlug, ehe er liegen blieb. Dann wandte sich die junge Löwin gebannten Blickes wieder ihrem Fund zu. Um die Tiere, die sie zum Vorschein gebracht hatte, näher inspizieren zu können, legte sie sich auf den Boden, die Vorderbeine angewinkelt, den Kopf neugierig gebeugt. Ein Lächeln glitt über ihre Züge. Direkt vor ihren Augen gab es Regenwürmer in allen nur denkbaren Formen: große und kleine, dicke und dünne, längliche. Sie alle waren eifrig dabei, sich dem Sonnenlicht zu entziehen, indem sie sich Stück für Stück in den kühlen Boden eingruben.
    »Ihr seid unruhig.« Nias Lächeln schwand.
    »Natürlich seid ihr das. Ich habe euch aufgescheucht. Verzeiht mir.«
    Und trotzdem... etwas war anders. An den Stellen, an denen der Boden so locker und erdig war wie hier, bekam man des öfteren nach einem kräftigen Regenschauer Regenwürmer zu Gesicht, sofern man wusste, wo man suchen musste. Wenn der Regen den Boden aufgeweicht hatte, kamen sie gerne an die Oberfläche. Und Regen war zu dieser Zeit keine Seltenheit. Die Wolken, die von Westen her aufzogen, verfingen sich häufig in den spitzen Klauen der hochragenden Berge und ließen ihre zahllosen Tropfen vom Himmel fallen, ehe sie weiterzogen oder sich verflüchtigten. Und der Sturm hatte viele Wolken mit sich gebracht.


    Nia war so vertieft in das Kriechen und Winden der Würmer, dass sie nicht einmal bemerkte, wie sich ihr jemand näherte. Die andere Löwin war älter und reifer als Nia. Sie besaß weder den Flaum noch die Andeutungen bräunlicher Flecken entlang der Vorder- und Hinterbeine, die Nia als Junglöwin kennzeichneten. Ihr Fell war heller als Nias und sie war alles in allem größer und kräftiger gebaut. Auch ihre Körperhaltung wirkte erhabener und das obwohl Ardhi nie viel Wert darauf legte, sich vor den anderen Rudelmitgliedern zu präsentieren.
    »Nia, wo bleibst du denn?«, sprach sie und trat heran. »Alle warten auf dich!«
    Sie musterte die Jüngere skeptisch, die nur Augen für die Erde vor ihren Pfoten hatte.
    »Was tust du denn da im Dreck?«
    Es dauerte einen Augenblick, ehe Nia antwortete.
    »Ich beobachte Regenwürmer.«
    So wie sie es sagte, klang es wie das Natürlichste der Welt.
    Ardhi seufzte. Obwohl sie Nias eigenartige Spielchen nur zu gut kannte, war sie immer wieder erstaunt, auf was für Ideen die junge Löwin kam. Heute schien sie offenbar eine neue Stufe der Absonderlichkeit erreicht zu haben.
    »Bist du schon so verzweifelt, dass du jetzt Regenwürmer frisst?«
    »Ich möchte sie nicht fressen«, entgegnete Nia. »Ich beobachte sie bloß.«
    Nias Schwanzspitze peitschte aufgeregt durch die Luft als sie sah, dass sich einer der Würmer beinahe vollständig eingegraben hatte.
    »Was auch immer du tust, du kannst auch später damit weitermachen. Jetzt gibt es erst einmal Wichtigeres zu erledigen. Je länger wir Samaha und die anderen warten lassen, desto ungeduldiger werden sie. Und auch mein Magen besitzt leider nicht die Fertigkeit, sich selbst zu füllen, so sehr ich es mir auch wünschen mag.«
    Nias Laune sank sichtlich. Sie hob den Blick, jedoch ohne Ardhi anzusehen. Stattdessen schien es, als starrten ihre Augen einfach in die Leere.
    »Ich möchte nicht jagen«, gestand sie ihrer Freundin. »Du weißt, dass ich keine gute Jägerin bin.«
    »Du wirst auch nie eine werden, wenn du dir keine Mühe gibst!«
    Es war keineswegs Faulheit, die Nia davon abhielt, gute Leistungen zu erbringen, so viel wusste Ardhi. Sie hatte in den vergangenen Wochen durchaus versucht, sich zu steigern und mit den anderen jungen Löwinnen mitzuhalten. Es war ihr jedoch nicht sonderlich gut gelungen und das hatte ihr offenbar mehr zugesetzt als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Trotzdem war Ardhi überzeugt davon, dass Nia nicht weniger Wert war als die anderen Löwinnen des Rudels.
    »Hör zu«, sprach sie sanft. »Niemand erwartet von dir, dass du mehr tust als du im Stande bist zu tun. Aber als Teil des Rudels musst du deinen Beitrag leisten, so wie wir alle. Davor wirst du dich nicht verstecken können.«
    Es verstrich ein weiterer Moment des Schweigens. Ein leichter Windhauch zog von Westen her den Hang herauf und ließ die Gräser rascheln.
    Schließlich nickte Nia einsichtig. »Du hast recht. Jeder von uns muss seinen Beitrag leisten. Auf die eine oder andere Weise.«
    Die Art, in der Nia die Worte aussprach, ließ Ardhi zögern. Ihre Stimme klang hohl und leer und ihre Augen schienen noch immer abwesend, verloren in einer anderen Welt, fernab des Rudels und allem, was sie umgab.
    Doch schon im nächsten Augenblick verflog die Leere und Nia richtete sich auf, um ihrer Freundin dankbar zuzulächeln, was Ardhi sehr begrüßte.
    »Na komm, lass uns gehen«, sprach Ardhi aufmunternd. »Mich würde es sehr wundern, wenn du nicht auch ein wenig Appetit verspürst, so ausgehungert wie du aussiehst.«
    Nia nickte. »Geh ruhig schon vor. Ich komme sofort nach, versprochen!«
    Ardhis Blick ließ erahnen, dass sie Zweifel an Nias Versprechen hatte. Doch schließlich wandte sie sich ab und lief voran, den Hang hinab zu den anderen, die unten auf dem Plateau auf sie warteten. Nur kurz sah ihr Nia hinterher, dann machte sie sich daran, den Stein, den sie zuvor beiseite geschoben hatte, wieder auf seinen Platz zu schieben, um den Regenwürmern ihren Sonnenschutz zurückzugeben.
    Sie hatte es beinahe geschafft, als ihr etwas auffiel. Einer der Regenwürmer hatte aufgehört, sich zu bewegen. Er lag ganz still, halb eingerollt, und rührte sich auch dann nicht, als Nia ihn vorsichtig mit der Pfote berührte.
    »Eigenartig...« Nia hätte schwören können, dass genau dieser Regenwurm sich gerade eben noch gewunden hatte. War ihm die Sonne so schlecht bekommen?
    Nachdem der Stein wieder an seinem ursprünglichen Platz lag, erhob die Löwin sich, um Ardhi hinab auf das Plateau zu folgen. Sie war noch keine zehn Schritt weit gekommen, da hielt sie inne und blickte noch einmal über die Schulter zurück. Ein eigenartiges Gefühl beschlich sie, eines, das sie nicht richtig zuzuordnen vermochte. Weder konnte sie sagen, was es bedeutete, noch woher es kam. Doch es sagte ihr, dass etwas nicht stimmte. Etwas war nicht so, wie es sein sollte.
    Einige Herzschläge lang lauschte Nia dem milden Wind, der durch ihr Fell strich. Sie atmete tief ein und wieder aus. Dann eilte sie den Hang hinab zu den anderen Löwinnen des Rudels.






    Die Jägerin und der Alte



    Noch ehe Samaha damit begonnen hatte, die Löwinnen für die Jagd zu versammeln, hatte sie sich einer anderen Aufgabe gewidmet. In den späten Mittagsstunden, als die Sonne allmählich an Stärke eingebüßt hatte, war sie dem plattgetretenen Pfad gefolgt, der weg von der Sammlung aufragender Felsen, die dem Rudel um diese Zeit des Tages reichlich Schatten spendeten, und hinaus auf das Plateau führte.
    Das Plateau war eine Hochebene am äußersten Rand des Savannenlandes, beinahe vollständig eingerahmt von den aufragenden Ausläufern des Vorgebirges jener Berge, die die Löwen als »Milima Kubwa« bezeichneten, die großen Berge. Nur nach Süden und Südwesten hin flachte das Land ab und ging über in die weiten Ebenen, die so typisch waren für die Trockensavanne. Zur Regenzeit lief das Wasser in breiten Bächen und Flüssen aus den Hochebenen hinab und speiste das ansonsten trockene Land. Hier auf dem Plateau war der Boden fruchtbarer und das Gras grüner. Das lockte zahlreiche Tiere an, von der kleinsten Gazelle bis zur größten Giraffe, mehr als genug Beutetiere, um ein Rudel hungriger Jäger zu versorgen. Sofern die Jäger im Stande waren, ihre Beute zu Fall zu bringen.


    Samaha war nicht lange unterwegs, bis sie fand, wonach sie gesucht hatte. Im Halbschatten einer jungen Schwarzdorn-Akazie, die hier im Hochland nur selten wuchsen, lag er und schlief. Die Blätter und Zweige der Akazie warfen wirre, sich ständig ändernde Muster auf seine massige Flanke. Sein Atem ging unregelmäßig und von Zeit zu Zeit zuckten seine Lefzen hoch, als würde er im Traum einem Rivalen gegenüber energisch seine vergilbten Reißzähne präsentieren.
    Die Löwin ließ sich in respektvollem Abstand nieder und verneigte sich flüchtig, da es Brauch war. Während sie auf eine Reaktion wartete, begann sie damit, den in die Jahre gekommenen Rudelführer näher zu betrachten. Es war beinahe erschreckend, wie sehr man ihm sein Alter ansah. Sein Fell schien von Tag zu Tag blasser und grauer zu werden, besonders im Hals- und Nackenbereich. Seine früher so imposant wirkende Mähne war dünn und strohig geworden und auf seiner Schnauze zeichneten sich zahlreiche Altersflecken ab. Hinzu kam der markante Geruch, den die Löwin inzwischen gut kannte.
    Als abzusehen war, dass Tazamaji nicht so schnell von alleine erwachen würde, begann Samaha damit, penetrant mit einer ihrer Vorderpfoten über den Boden zu schaben, wobei sie ein leichtes Räuspern erklingen ließ. Das zeigte Wirkung. Tazamaji regte sich, blinzelte ein paar Mal und schüttelte den Kopf, um zur Besinnung zu kommen, wobei die Strähnen seiner kargen Mähne wild durch-einander fielen. Er bemerkte die Löwin vor sich und lächelte sanft.
    »Samaha, mein Kind. Was hast du mir zu sagen?«
    Samaha konnte es nicht leiden, wenn er sie als sein Kind bezeichnete. Es strafte ihrer Stellung im Rudel Lügen. Denn obwohl sie nicht die Rudelälteste war, tat sie doch vieles, was sie dieser Position nahe brachte. Für viele, insbesondere der jüngeren Löwinnen, war sie Vorbild und Inspiration, weshalb sie sie für gewöhnlich mit großem Respekt behandelten.
    Bei Tazamaji war das natürlich etwas anderes. Als Rudelführer stand er über allen, war niemandem Rechenschaft schuldig und keine der Löwinnen hätte sich auch nur im Traum einfallen lassen, ihm etwas vorzuwerfen, nicht einmal Samaha. Daher schluckte sie ihren Missmut hinunter und begann ohne Murren zu berichten.
    »Der Sturm hat die Herden aufgescheucht und die Beutetiere quer über das Plateau verteilt«, sprach sie. »Die Chancen stehen gut, dass sich das eine oder andere verlorene Tier aufspüren lässt. Imani hält es deshalb für ratsam, nicht erst die Dämmerung abzuwarten.«
    Mit sichtlicher Mühe richtete sich der Alte auf und atmete schwer und tief durch, während er sich Samahas Worte durch den Kopf gehen zu lassen schien.
    »Und du?«, fragte er »Was hältst du von ihrem Einwand?«
    »Ich stimme ihr zu«, entgegnete Samaha knapp. Ihre Beziehung zu Imani mochte nicht die beste sein, doch in diesem Fall kam sie nicht drum herum, ihren Worten ein gewisses Maß an Vernunft beizumessen.
    Tazamaji nickte verständnisvoll, während er aus dem Schatten hervortrat. »Ja, ich denke, ihr habt recht. Dem Jagdglück der letzten Zeit nach zu urteilen, sollten wir jeden Vorteil nutzen, der sich uns bietet.«
    Dieses Mal konnte Samaha ein Schnauben nicht zurückhalten. Es machte nicht den Eindruck, als würde Tazamaji ihr direkte Vorwürfe machen wollen. Nichtsdestotrotz stand es außer Zweifel, dass sie die Hauptverantwortliche war, wenn es um Jagdangelegenheiten ging, weshalb sie jegliche Kritik in dieser Hinsicht sehr persönlich nahm, insbesondere weil sie fest davon überzeugt war, dass sie selbst keine Schuld traf. Sie hatte getan, was sie konnte, aber die meisten Löwinnen des Rudels waren zu unerfahren oder aber zu stur, um die Disziplin während der Jagd aufrecht zu erhalten.
    Tazamaji schien zu ahnen, was die Löwin dachte. Für gewöhnlich war es nicht seine Art, sich in die Angelegenheiten der Löwinnen einzumischen. Jedenfalls nicht, solange er regelmäßig seinen Teil der Beute einstreichen konnte. Und genau das tat er auch. Von allen Rudelmitgliedern war er der letzte, der sich um mangelnden Jagderfolg zu sorgen hatte, denn er hatte das Recht, sich nach eigenem Ermessen an der Beute zu bedienen. Was dann noch übrig blieb, teilten die Löwinnen unter sich auf. So war es Tradition.
    »Diese Nia, wie stellt sie sich bei der Jagd an?«, wollte der Rudelführer wissen und Samaha kam nicht umhin, zu bemerken, dass ein entfernter Schimmer über seine fahlen Augen huschte, während er einen flüchtigen Blick über die Savanne warf. Sie wusste, dass Nia die einzige Löwin der jungen Generation war, mit der der Alte noch keinen engeren Kontakt aufgenommen hatte. Vor ein paar Tagen hatte Samaha die beiden gesehen, wie sie nebeneinander am Fluss gestanden hatten. Nia war dem Rudelführer sichtbar ausgewichen, hatte nur knapp auf seine Fragen geantwortet, ein paar Schluck Wasser genommen und sich daraufhin schnellen Schrittes zurück zu den Schlafplätzen begeben. Ganz offensichtlich schien der alte Löwe sie nicht sonderlich anzuziehen.
    »Nun, wenn du es wirklich wissen willst: Sie ist eine Kata-strophe. Einige der anderen sind der Meinung, wir sollten sie von der Jagd ausschließen, dann hätten wir mehr Erfolg. Manchmal frage auch ich mich, ob sie nicht eher den Beutetieren hilft als uns.«
    Samaha wagte nicht abzuschätzen, was dem Alten durch den Kopf ging, während er sich gemächlich streckte und seine geschundenen Knochen knacken ließ. Vielleicht wägte er ab, ob eine Löwin wie Nia die Mühe wirklich wert war. Irgendetwas sagte Samaha jedoch, dass es gerade Nias zögerliches Verhalten und ihre Ausweichversuche waren, die Tazamajis männlichen Jagdinstinkt auf seine alten Tage noch einmal geweckt hatten. Möglicherweise hatte er unbewusst auf eine Herausforderung gewartet. So oder so schien der Gedanke an sie ihn bei Laune zu halten, jedenfalls für einige Augenblicke. Denn kaum hatte er seine obligatorischen Dehn-übungen hinter sich gebracht, blickte er grimmiger drein als ein erbostes Nashorn.
    »Wo ist bloß die Zeit hin, Samaha? Gestern noch bin ich wie ein junger Gepard durch die Savanne gejagt und heute kann ich kaum mein eigenes Gewicht auf den Beinen halten. Was hat Mutter Natur mit uns angestellt?«
    »Sie hält nichts davon, es uns einfach zu machen«, entgegnete Samaha, die sich an derlei Ausbrüche von Selbstmitleid von Tazamajis Seite gewöhnt hatte. »Das war noch nie ihr Anliegen. Wir beide wissen das.«
    »Wir beide wissen es«, wiederholte der Alte abschließend und setzte sich in Bewegung, dem Pfad folgend, der hinaus auf das Plateau führte. Dort verlor er sich in einem Meer aus grünem und bräunlichem Gras, das sich rhythmisch im Wind wiegte.
    Samaha sah ihm hinterher, wie er sich schwerfällig voran-schleppte, den Kopf tief gesenkt. Mit jedem Schritt wippte sein hängender Bauch von einer Seite auf die andere. Sie konnte es Nia nicht verübeln, dass diese nicht viel für Tazamaji übrig hatte. Wenn sie ehrlich war, musste Samaha sich eingestehen, dass es ihr nicht anders ging. Aber das war eine ganz andere Geschichte.
    Da sie ihre Pflicht, den Rudelführer über die anstehende Jagd zu informieren, als erfüllt ansehen konnte, machte Samaha sich auf den Weg zurück zu den Schlafplätzen, um die anderen Löwinnen zusammenzutrommeln. Dabei gingen ihr die Worte des Alten wieder und wieder durch den Kopf, ohne dass sie wirklich über sie nachzudenken begann. Was hat Mutter Natur mit uns getan?






    Gazellen



    »Nia! Runter mit dir!«
    Für den Bruchteil eines Augenblicks war Nia starr vor Schreck. Sie war aufgesprungen, als sie die Gazellen näherkommen gehört hatte, doch jetzt begriff sie, dass die Tiere noch viel zu weit entfernt waren, um wirkungsvoll zuschlagen zu können. Sofort duckte die junge Löwin sich wieder in das dornige Gestrüpp, das sie sich - zu ihrem eigenen Verdruss und entgegen gut gemeinter Ratschläge ihrer Tante - als Deckung ausgesucht hatte und das über einen gefühlten halben Nachmittag hinweg ihr Fell und ihre Haut malträtiert und dabei unschöne Kratzspuren hinterlassen hatte. Sie ignorierte den stechenden Schmerz am ganzen Körper so gut sie konnte und konzentrierte sich auf das Getrappel der zierlichen Paarhufe, die sich ihnen Stück für Stück näherten.
    »Was tust du denn da?«, zischte Ardhi, die nicht weit entfernt zwischen einigen verstreuten Steinen lag, Bauch und Brust fest auf den sandigen Boden gepresst.
    Nia wagte nicht zu antworten. Sie hatte Sorge, dass das kleinste Geräusch, das sie nun von sich gab, sie verraten könnte. Ihre Voreiligkeit hatte die Jagd massiv gefährdet und sie konnte von großem Glück reden, dass keine der Gazellen sie bemerkt zu haben schien. Immerhin hatte sie nun einen besseren Blick durch dir Dornenzweige.


    Nachdem Nia und Ardhi zu den anderen Löwinnen des Rudels, die man nicht aufgrund von Alter oder Nachwuchs von der Jagd freigestellt hatte, gestoßen war, hatte Samaha wie üblich die Führung übernommen. Sie hatte die Jägerinnen weit hinaus auf das Plateau geführt, deutlich weiter als sie es sonst tat. Auf von ihrer Herde getrennte Einzeltiere waren sie hier draußen nicht gestoßen, dafür aber nach längerer Suche schließlich auf eine kleine Gruppe von sechs Thomson-Gazellen, die an einem dicht bewachsenen Hang gegrast hatten. Samaha und zwei der anderen Löwinnen hatten sich daraufhin aufgemacht, den Hang weiter südlich zu erklimmen, um die Gazellen zu den übrigen Jägerinnen zu treiben. Da sie es vermeiden wollten, gewittert zu werden und gleichzeitig planten, einen möglichst breiten Bereich abzudecken, hatten sich die Löwinnen paarweise in einigem Abstand von den jeweils anderen Jägerinnen auf die Lauer gelegt. Nia und Ardhi hatten gemeinsam die linke äußere Flanke übernommen.
    Die Folge ihres durchdachten Vorgehens war eine ebenso elendiglich lange wie auch nervenzerreißende Geduldsprobe gewesen. Das Warten war so unerträglich geworden, dass Nia ernsthaft darüber nachgedacht hatte, einen Abstecher zum Fluss zu machen und zu einem späteren Zeitpunkt zurückzukehren. Es hätte sie nicht einmal verwundert, wenn sie unterwegs auf Samaha und die anderen Treiberinnen gestoßen wäre, die sich dort vermutlich spöttisch amüsierten, während der Rest von ihnen hier draußen versauerte.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit war schließlich doch etwas geschehen. Die kleine Gazellengruppe war in Aufruhr geraten und die Tiere setzten sich nacheinander in Bewegung. Erst sah es so aus, als ob die Tiere nach Norden flüchteten, doch dann schlugen sie einen Bogen und stürmten den Hang hinab, direkt auf Nia und Ardhi zu.
    »Bleib ruhig und warte auf mein Zeichen«, flüsterte Ardhi, deren Krallen bereits in Vorfreude auf den Nervenkitzel der Jagd durch den heißen Sand fuhren.
    Diese Vorfreude konnte Nia in keiner Weise teilen. Jeder wusste, dass Ardhi die weitaus versiertere Jägerin von ihnen war. Wenn jemand tatsächlich eine der Gazellen zu Fall bringen würde, dann war sie es, alles andere war eine Illusion, der Nia nicht zu verfallen drohte. Ardhi besaß all das Talent, das Nia schon immer gefehlt hatte. Hinzu kam, dass sie um einiges mehr an Erfahrung vorweisen konnte, was sich in ihrer Gelassenheit widerspiegelte. Man sah ihr an, dass sie sich und ihren Körper zu jeder Zeit unter Kontrolle hatte.
    Nia hingegen war im Angesicht der sich mit hoher Geschwindig-keit nähernden Gazellen wie gelähmt vor Anspannung. Von Atemzug zu Atemzug wurde ihr Herzschlag schneller. Viel hätte nicht gefehlt und sie hätte sich direkt hier und jetzt vor ihre Pfoten erbrochen.
    »Konzentrier' dich, Nia! Ziel auf ihren Hals, dann kannst du nichts falsch machen!«
    Mit diesen letzten ermutigenden Worten widmete sich Ardhi nun voll und ganz den sich nähernden Huftieren.
    Nichts falsch machen? Nia hatte am eigenen Leib zu spüren bekommen, was bei einer Jagd alles schief laufen konnte. Man hätte sagen können, dass sie die gescheiterte Jagd auf ein neues Niveau gehoben hatte. Und das unzählige Male.
    Aus dem Augenwinkel sah die junge Löwin, wie sich die Muskeln ihrer Freundin vor Erregung anspannten. Sie gab sich alle Mühe, es ihr gleich zu tun, sich von nichts und niemandem ablenken zu lassen, mit Boden und Wind zu verschmelzen, so wie man es ihr beigebracht hatte.
    Das Getrappel schwoll an und aus ihrem Versteck konnte Nia den zierlichen Tieren, die nicht größer waren als ein Elefantenjunges, direkt in die Augen sehen. Sie sah die schwarzen und weißen Markierungen entlang der Wangenknochen und die von Rillen durchzogenen spitzen Hörner, die der Stirn entsprangen und von dort aus in einem geschwungenen Bogen gen Himmel verliefen.
    »Jetzt!«
    Wie vom Blitz getroffen schoss Ardhi aus ihrem Versteck hervor und stürzte auf die Beutetiere zu. Nia reagierte viel zu spät. Als sie aufspringen wollte, verfing sie sich für einen kurzen Augenblick in den Dornen, die ihr den einen oder anderen Haarbüschel aus dem Fell rissen. Der Schmerz, der durch ihre Glieder zuckte, war zu ertragen, doch ihr Ungeschick hatte sie wertvollen Schwung gekostet.
    Ardhi war bereits mehrere dutzend Schritte voraus. Ihr Vorstoß trieb die Mehrzahl der Gazellen dazu, ihre Laufrichtung schlagartig zu wechseln. Mit einem Mal sah es entgegen aller Erwartungen so aus, als ob die Tiere Nias Laufweg kreuzen würden. Nia sah die typischen schwarzen Streifen auf den Flanken der kleinen Paarhufer. Sie wusste, dass dies der Moment war, an dem sich die Wege von Erfolg und Scheitern teilten. Wenn sie jetzt nicht handelte, würden die Gazellen entkommen und es wäre erneut ihre Schuld. Das konnte sie nicht zulassen. Noch nie zuvor hatten ihre Chancen auf einen Treffer so gut gestanden.
    Während ihre Pfoten sich vom heißen Savannenboden abstießen, korrigierte Nia ihren Angriff, indem sie sich, so gut es ihr gelang, in die Kurve lehnte. Die vordersten zwei Tiere, darunter auch der lang gehörnte Bock der Herde, hatten sie bereits passiert, doch das dritte Tier, ein groß gewachsenes Weibchen, war mit einem Mal zum Greifen nahe. Nia peilte den Hals der Gazelle an, so wie Ardhi es ihr immer wieder vorgebetet hatte. Dann riss sie die Vorderpfoten hoch und-
    Ein stechender Schmerz fuhr durch Nias Leib. Ihre Glieder schienen zu versagen, entrissen sich ihrer Kontrolle. Binnen Bruchteilen einer Sekunde legte sich ein dunkler Schleier vor ihre Augen, gefolgt von wirrem Flimmern und einem grellen Leuchten, als würde sie mit weit aufgerissenen Augen direkt in die Sonne blicken.
    Wie aus dem Nichts erschienen plötzlich Bilder, fremdartige Eindrücke von Orten, die Nia noch nie zuvor gesehen hatte. Sie sah eine Welle aus blutrotem Wasser über das bebende und wankende Land hinwegrauschen, Pflanzen und Tiere gleichermaßen mit sich reißend. Die Berge rings um sie donnerten und spuckten glühende Steine und heißen Staub, während der Boden unter ihren Pfoten zerriss und den Blick in einen endlosen, schwarzen Schlund preisgab. Schreie peitschten aus der Tiefe hervor und rissen an Nias Ohren. Bittere, schmerzerfüllte Schreie, die nach und nach zu einem einzigen, ausgedehnten Brüllen verschmolzen, das von Leid, Elend und tiefem Hass kündigte. Als Nia Atemzug um Atemzug die dünne, brennend heiße Luft einsog, erkannte sie den unheilvollen Geruch des Todes.


    Das nächste, woran die Löwin sich erinnern konnte, waren der strahlend blaue Himmel und das grüne Gras, in dessen Mitte sie lag. Der Abgrund war verschwunden und mit ihm das Brüllen. Doch die Welt wankte und drehte sich noch immer und ein nebelartiger Dunst lag in der Luft. Aus scheinbar unendlicher Ferne drangen dumpf die Rufe einer Löwin zu ihr heran.
    »Nia! Bei unserer großen Mutter, was ist geschehen?«
    Nia lag auf der Seite, die Pfoten halb in die Erde gegraben. Sie hatte die Ohren angelegt. Das Tosen und Donnern war verklungen und hatte einer friedlichen Stille Platz gemacht. Ein Schwarm von Zugvögeln glitt am Himmel über sie hinweg.
    »Bist du verletzt?«, erklang Ardhis Stimme noch einmal, jetzt deutlich verständlicher. »Nia! Antworte mir!«
    Gräser raschelten, als die Löwin eilig näher kam und sich zu Nia hinabbeugte. Sorge spiegelte sich in ihrem Blick wieder.
    Nia drehte sich auf den Bauch herum, keuchte und hustete. Zitternd stemmte sie ihre Pfoten gegen den Boden. Es gelang ihr, sich aufzurichten, doch ihre Beine waren weich von dem Schreck, der tief in ihren Gliedern saß.
    »Du bist plötzlich zusammengeklappt«, erklärte Ardhi. »Gerade als du die Gazellen erreicht hattest. Es sah furchtbar aus.«
    Nia blinzelte ein paar Mal und spürte, wie der Schwindel allmählich abklang. Auch die Schmerzen ließen nach, lediglich ein oberflächliches Brennen blieb auf ihrer Haut zurück.
    »Es geht mit gut«, sprach sie. »Nur ein paar Kratzer.«
    Jetzt, da sie wieder zur Besinnung kam, kamen Stück für Stück auch die Erinnerungen zurück.
    »Haben... haben wir etwas erlegt?«, fragte sie vorsichtig.
    Ardhi schüttelte den Kopf. »Diese kleinen Biester sind auf und davon, die holen wir nicht mehr ein.«
    Nicht ohne eine Spur Sehnsucht sah die Löwin den flüchtenden Beutetieren hinterher.
    »Als ich gesehen habe, wie du gestürzt bist, habe ich die Jagd sofort abgebrochen.«
    Nia seufzte resigniert. »Dann sind wir also wieder leer ausgegangen.«
    »Das spielt keine Rolle. Die Hauptsache ist, dass du wohlauf bist. Du hast mir einen ganz schönen Schreck eingejagt.«
    »Meinst du, die anderen sehen das auch so?«
    Noch immer ein wenig benommen sah Nia zwei der anderen Löwinnen durch das brusthohe Gras auf sie zutraben. Während Falsafa eine eher gleichgültige Miene aufgesetzt hatte, schien ihre Schwester Wut und Frustration freien Lauf zu lassen. Nia wusste, was nun folgen würde, sie hatte es oft genug erlebt. Beschämt sah sie zu Boden.
    »Kannst du nicht einmal etwas richtig machen?«, fauchte Imani aufgebracht. »Wie viel näher sollen wir dir die Beute noch vor die Schnauze setzen? Sollen wir sie vielleicht noch für dich festhalten?«
    »Lass sie in Ruhe!«, entgegnete Ardhi und stellte sich schützend vor Nia, die beinahe vollständig im Gras versunken war, die Ohren vor Angst angelegt. »Sie kann nichts dafür, sie ist gestürzt. Das hätte jeder von uns passieren können!«
    Das schien Imani nicht als Rechtfertigung zu genügen. Ihr grimmiger Blick wanderte von Nia zu Ardhi und wieder zurück und ließ weder Einsicht noch Mitleid erkennen.
    »Gestürzt, hm? Vielleicht sollte sie erst einmal laufen lernen, bevor sie auf die Jagd geht. Es ist immerhin nicht das erste Mal, dass ihre Pfoten sie im Stich lassen!«
    »Keine von uns wurde als Meisterjägerin geboren, auch du nicht, Imani«, sprach Ardhi, die ganz offensichtlich nicht viel von der Meinung der beiden Schwestern zu halten schien. »Das solltest du nicht vergessen.«
    »Man muss kein Meisterjäger sein, um eine Gazelle zu reißen, die weniger als eine Pfotenbreite vor der eigenen Schnauze entlang taumelt!«
    Mit einem Nicken stimmte Falsafa ihrer Schwester zu. »Sie hat recht, Ardhi. Es war zu leicht, um es entschuldigen zu können.«
    Schnaubend trat Ardhi einen Schritt vor und sah Falsafa direkt in die Augen. »So wie es aussieht, hattet ihr beiden auch keinen größeren Erfolg als Nia. Oder täusche ich mich?«
    Für einen Moment schwieg Falsafa, offenbar abschätzend, wie weit Ardhi bei der Verteidigung ihrer Nichte und guten Freundin wohl gehen würde. Gerade wollte sie etwas erwidern, als Samaha ihr zuvorkam.
    »Was geht hier vor sich?«, sprach die Löwin und wies Ardhi und Falsafa mit strengen Blicken zurecht. Sie und die beiden anderen Treiberinnen näherten sich der kleinen Gruppe.
    Noch immer standen sich Ardhi und Falsafa Auge in Augen gegenüber, ungeachtet der Tatsache, dass sie beide Respekt vor Samaha besaßen. Doch keine von ihnen war gewillt, nachzugeben und Schwäche zu zeigen. Es war äußerst selten, dass die ansonsten so kluge und besonnene Ardhi sich zu einem solchen Kräftemessen hinreißen ließ, weshalb ihr Verhalten Nia Sorgen bereitete. Wenn es zu einer körperlichen Auseinandersetzung kam, war die junge Nia keine sonderlich große Hilfe.
    »Es ist Nia«, antwortete Imani, als sie erkannte, dass keine der anderen Anstalten machte, auf Samahas Frage einzugehen. »Sie hat es mal wieder verbockt.«
    »Schluss mit dem Unfug!« Indem sie sich unmittelbar zwischen sie stellte, trieb Samaha die beiden streitenden Kontrahentinnen wie ein Keil auseinander. Nur widerwillig wichen sie zurück, die Blicke weiterhin eisern auf einander gerichtet.
    »Muss ich euch daran erinnern, dass wir als Gruppe jagen? Wenn eine von uns versagt, haben wir alle versagt. Es wird niemand beschuldigt! Und erst recht möchte ich kein Gezanke erleben!«
    Das waren ungewöhnliche Worte aus dem Mund einer Löwin, die selbst oft genug gezeigt hatte, dass es ihr schwerfiel, ihr Temperament unter Kontrolle zu halten. Nichtsdestotrotz zeigten sie Wirkung. Nach einigem Zögern ließen die beiden Löwinnen schließlich ohne weitere Widerworte voneinander ab. Doch die Anspannung, die in der Luft lag, war noch immer deutlich spürbar.
    Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Gemüter sich ein wenig beruhigt hatten, wandte sich Samaha an Nia und musterte diese streng.
    »Sieh' mich an. Bist du verletzt?«
    Nia antwortete nicht direkt. Angesichts der harschen Worte der anderen Löwinnen war sie förmlich geschrumpft. Allein aufzublick-en und Samaha in die Augen zu sehen, kostete sie Überwindung.
    »Es ist nichts Schlimmes«, sprach sie schließlich kleinlaut.
    »Dann hast du Glück gehabt.« Samahas Stimme klang offen und direkt, aber nicht verletzend. »Ein Sturz während der Jagd ist eine gefährliche Angelegenheit und auf keinen Fall auf die leichte Schulter zu nehmen. Knochen brechen innerhalb von Augenblicken, aber sie brauchen viele Tage, ehe sie wieder verheilt sind.«
    Nia nickte stumm.
    »Du kehrst am besten zu den Schlafplätzen zurück und schonst dich, wir sprechen uns dann später. Was den Rest von uns angeht...« Samaha sah zu den anderen Löwinnen auf, die sich um sie und Nia versammelt hatten, und hob die Stimme. »Wir haben den Gazellen mehr als genug Vorsprung gewährt. Wird Zeit, dass wir die Verfol-gung aufnehmen.«
    Ardhi, die endlich von Falsafa abgelassen hatte, trat an die Jagdführerin heran.
    »Ich begleite Nia«, sprach sie. »Für den Fall, dass sie sich vielleicht doch mehr getan hat, als es den Anschein haben mag. Sobald ich sie in Sicherheit weiß, komme ich nach. Versprochen.«
    Samaha nickte zustimmend. »In Ordnung. Aber beeil dich, auf eine gute Jägerin wie dich verzichte ich nur sehr ungerne.«
    Ihr Blick ließ erahnen, dass die Löwin nicht allzu viel Vertrauen in die Jagdkünste der verbliebenen Gefährtinnen hatte. Dann, im nächsten Moment, setzte sie sich in Bewegung. Samaha schlug die Richtung ein, in die die kleine Gazellengruppe entkommen war. Die anderen, bis auf Nia und Ardhi, folgten ihr wortlos. Nia mied jeglichen Augenkontakt zu den abrückenden Löwinnen, doch sie war sich sicher, dass viele von ihnen ihr im Vorübergehen den ein oder anderen bitterbösen Blick zuwarfen.
    Schließlich blieben sie und Ardhi alleine zurück.






    Flink und elegant wie ein Gepard



    Nia wusste, dass ihr erneutes Versagen dazu führen würde, dass die anderen Löwinnen ihr von nun an noch weniger wohl gesonnen sein würden, als sie es bislang ohnehin schon waren. Doch so elendig sie sich im Angesicht dieser traurigen Tatsache auch fühlte, sobald sie an das dachte, was nur Momente zuvor mit ihr geschehen war, schienen diese Sorgen auf einmal merkwürdig unbedeutend. Das, was sie wirklich quälte, waren Fragen. Fragen, auf die sie keine Antwort wusste.
    Woher waren diese fremden Bilder und Eindrücke gekommen? Es hatte sich alles so echt angefühlt, noch viel realer als in einem Traum. Und doch war all das, was sie gesehen oder gehört hatte, innerhalb eines einzigen Augenblicks wieder verschwunden.
    Die Löwinnen um Samaha hatten sich noch nicht weit entfernt, da wandte sich auch Ardhi zum Gehen. Die Heimat des Rudels lag ein weites Stück östlich an den Berghängen auf der anderen Seite des Plateaus. Je mehr sie sich beeilten, desto früher konnte Ardhi wieder zurück zu den Jägerinnen stoßen. Die Löwin hatte bereits ein paar Schritte zurückgelegt als ihr aufzufallen schien, dass Nia keinerlei Anstalten machte, ihr zu folgen. Ein wenig irritiert sah sie über die Schulter zu ihr zurück.
    »Was ist? Kommst du?«
    Nia nickte abwesend und ließ ihre Schwanzquaste durch die Luft schnellen. Eine Geste, die Ardhi nur zu gut kannte. Die junge Löwin war wie so oft in Gedanken vertieft, für die sie mehr übrig zu haben schien als für das, was um sie herum geschah. Vermutlich hatte sie die Frage ihrer Freundin nicht einmal wahrgenommen.
    Mit einem Seufzen machte Ardhi kehrt und trottete das kurze Stück durch das Gras zurück zu Nia. Vergeblich versuchte sie Blickkontakt mit ihrer Nichte herzustellen. Es war durch und durch offensichtlich, dass Nia irgendetwas beschäftigte.
    »Was passiert ist, ist passiert«, sprach Ardhi beschwichtigend. »Du kannst es jetzt nicht mehr ungeschehen machen. Also hör auf, dich zu quälen und dir Vorwürfe zu machen.«
    »Nein, es ist...« Nia suchte nach passenden Worten. »Es hat nichts mit der Jagd zu tun. Nicht direkt jedenfalls.«
    Skeptisch betrachtete Ardhi ihre junge Freundin. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
    »Als ich gestürzt bin«, bemühte Nia sich um eine Erklärung, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die anderen Löwinnen außer Hörweite waren, »da habe ich etwas gesehen. Ich habe gesehen, wie unsere Welt unterging, wie sie verschluckt wurde von den wilden Launen von Mutter Natur. Alles, was du sehen kannst, war einfach weg. Fortgewaschen vom Fluss der Zeit.«
    »Oh, Nia. Du musst dir den Kopf wirklich schlimm angeschlagen haben. Lass mich sehen, ob du blutest.« Ardhi trat vor, um Nias Nacken zu packen und ihren Hinterkopf zu betrachten. Doch Nia wich augenblicklich zurück und sah die ältere Löwin eindringlich an.
    »Es war echt, Ardhi. So echt wie die Erde unter meinen Pfoten oder der Wind in meinem Fell. Ich habe das gesamte Land in einen tiefen, schwarzen Abgrund stürzen sehen. Und da war dieser Schrei. Er drang aus der Tiefe hervor.«
    Ardhi nahm ihre Pfote zurück und setzte sie auf dem Boden ab, bemüht um eine verständnisvolle Miene.
    »Einbildungen können sehr real erscheinen«, sprach sie geduldig. »Ebenso wie Träume. Aber das muss gar nichts bedeuten. Du bist gestürzt und dabei...«
    »Die Eindrücke kamen nicht, weil ich gestürzt bin«, unterbrach sie Nia verärgert und ihre Stimme schwoll immer mehr an. »Ich bin gestürzt, gerade weil mein Körper dem, was ich gesehen habe, nicht standgehalten hat. Es war keine Einbildung!«
    Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, stampfte Nia mit einer Pfote auf dem Boden auf. Sie bebte förmlich vor Anspannung. So hatte Ardhi sie noch nie zuvor erlebt.
    »Ich kann nicht alles beschreiben«, fuhr Nia fort und sah hinauf zu den fernen Berggipfeln, um ein wenig Orientierung zu finden. »Da war so vieles. Der ohrenbetäubende Lärm, die Schreie und dieser... dieser Geruch.« Hadernd suchte die Löwin nach Worten. »Selbst jetzt rieche ich ihn noch. Es war wie verflucht, wie ein einziges großes Unheil. Warum sollte ich mir so etwas ausdenken?«
    Ardhi antwortete nicht. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Etwas, womit die Ältere offensichtlich nicht gerechnet hatte. Die Schnauze angehoben begann sie intensiv zu wittern. Ihr Blick verriet Erstaunen.
    »Du hast recht«, sprach sie ungläubig. »Ich rieche es auch.«
    Zunächst war es ihr nicht aufgefallen, doch nun, da der Wind wieder etwas an Stärke zugenommen hatte, spürte Ardhi ganz deutlich, dass etwas in der Luft lag. Es war ein Geruch, der einem Jäger der Savanne durch und durch vertraut war. Der Geruch des Todes war unverwechselbar.
    Nia war still geworden. Die Tatsache, dass ihre Tante ihr nun nicht mehr widersprach, sondern mit einem Mal dasselbe wahrzunehmen schien wie sie, überraschte sie gehörig. »Du... du kannst es auch riechen?«
    »Ja. Es muss aus der Nähe kommen. Ein Wunder, dass keine der anderen es gewittert hat.«
    Die beiden Löwinnen zögerten nicht länger und begaben sich auf die Suche nach dem Ursprung des prägnanten Geruchs, der Geruchsspur folgend, die nun immer kräftiger wurde. Sie führte sie einige Schritte weit durch das Gras und zu einem nahebei liegenden Gewirr aus Sträuchern und Gestrüpp. Als sie sich durch zahlreiche Gräser und ein dichtes Geflecht aus Zweigen und Blättern gekämpft hatten, wurden sie schließlich fündig.
    Dort, umgeben von weiterem hoch aufragendem Gestrüpp und gut verborgen vor den Blicken neugieriger Savannenbewohner, lagen die Überreste einer toten Antilope. Den Hörnern nach schien es sich um eine männliche Kuhantilope zu handeln, da das Tier jedoch äußerst sorgfältig auseinander genommen worden war, war dies nicht eindeutig festzustellen. Wer auch immer sich hier satt gefressen hatte, hatte auf jeden Fall ganze Arbeit geleistet. Als Nia näher an den Kadaver herantrat, sah sie, dass von Kopf bis Flanke kaum mehr als Knochen und einige Hautfetzen übrig geblieben waren. Reste des Mageninhalts lagen auf dem Boden verstreut, von den Innereien selbst fehlte jede Spur.
    »Sieht noch recht frisch aus. Hat jemand aus dem Rudel gestern oder heute hier Beute gemacht?«, fragte Nia, während sie mit der Pfote das Gras zur Seite schob, um die abgenagten Knochen besser betrachten zu können.
    Ardhi hatte den Kadaver bereits umkreist und ihn von allen Seiten beäugt.
    »Davon wüsste ich nichts«, sprach sie. »So weit hinaus hat Samaha uns schon lange nicht mehr geführt. Die einzige, die in Frage kommt, ist Kimya. Aber sie würde alleine niemals ein so großes Tier erlegen können. Und selbst wenn... was für einen Grund hätte sie, den Fang vor uns geheim zu halten? Warum die Mühe machen, die Beute in dieses widerspenstige Gestrüpp zu schleppen?«
    »Vielleicht haben ein paar Hyänen die Überreste gefunden und in Sicherheit gezerrt, bevor sie darüber hergefallen sind?«
    »Möglich.« Ardhi nickte nachdenklich. Dann schien ihr plötzlich etwas aufzufallen. Etwas, was sich direkt vor ihren eigenen Pfoten befand.
    »Hier sind Spuren«, sprach sie und trat vorsichtig zurück, um ihrer Freundin einen freien Blick auf ihren Fund zu gewähren.
    Nia wandte sich vom Kadaver ab und der Stelle zu, auf die Ardhi deutete. Tatsächlich, zwischen den Gräsern, dort wo die Erde vom getrockneten Blut des toten Tieres leicht rötlich gefärbt war, waren offenbar frische Abdrücke zu erkennen. Teils waren sie sehr stark verwischt, aber an einigen Stellen war deutlich die charakteristische Form eines Pfotenabdrucks zu erkennen, wie er nur von einer Raubkatze stammen konnte.
    »Sieht mir nicht nach Hyäne aus.«
    Ardhi folgte den Spuren ein paar Schritt weit, indem sie sich einen Weg durch die Sträucher bahnte.
    »Die Abdrücke scheinen auf das Plateau zu führen. Viele der Grashalme hier sind abgeknickt oder ganz plattgedrückt. Sieht tatsächlich so aus, als ob die Antilope hierher gezerrt wurde. Von selbst wird sie jedenfalls nicht in dieses Dickicht geklettert sein.« Äußerst vorsichtig entfernte die Löwin mit der Schnauze einige Dornenzweige, die sich im Fell an ihrer Flanke verhakt hatten. »Wer würde schon freiwillig hierher kommen wollen?«
    Nia konzentrierte sich. Ihr Versagen bei der Jagd und die fremdartigen Eindrücke hatte sie für den Moment beiseite ge-schoben. Irgendetwas sagte ihr jedoch, dass es kein Zufall war, dass sie den selben Geruch, der ihr an diesem Ort in die Nase stieg, auch während ihres Sturzes wahrgenommen hatte.
    »Wenn es keine Hyänen waren, die die Antilope erlegt haben und auch keine Löwin aus dem Rudel, wer dann?«
    Ardhi hob den Kopf und sah Nia über das dichte Gestrüpp hinweg an. »Es gibt noch andere Savannenbewohner, die in der Lage sind, eine ausgewachsene Kuhantilope zu erlegen, jedenfalls wenn sie in einer Gruppe jagen.«
    »Du meinst Geparden?«, fragte Nia.
    Geparden bekam man auf den weiten Savannenebenen und auch hier im Hochland des Öfteren zu Gesicht. Da die flinken und graziösen Räuber jedoch nicht größer als eine Junglöwin waren und gleichzeitig um einiges leichter, gingen sie ihren entfernten Verwandten in der Regel aus dem Weg. Ihre Hauptjagdzeit lag in der Mittagshitze, in der die größeren Jäger für gewöhnlich den Schatten bevorzugten. Direkte Konfrontationen mieden sie, solange sie nicht in der Überzahl waren, was selten vorkam, da Geparden im Gegensatz zu Löwen keine Rudel bildeten. Nia hatte jedoch von den anderen Löwinnen gelernt, dass Gepardenmännchen sich in manchen Fällen zu kleineren Gruppen zusammenschlossen, die durchaus eine Bedrohung darstellen konnten.
    Während sie die Spuren betrachtete, dachte Nia über Ardhis Vermutung nach. Trotz ihrer eher geringen Größe waren Geparden gefährliche und nicht zu unterschätzende Jäger. Einer Kuhantilope konnte eine Gruppe ausgewachsener Gepardenmännchen sehr wohl zu Leibe rücken. Auch der Appetit, von dem die wenigen Überreste der Antilope zeugten, sprach für eine Gruppe von Jägern. Doch irgendetwas sagte Nia, dass die Spur, die Ardhi entdeckt hatte, nicht die Spur eines Geparden war. Zum einen wirkten die Pfotenabdrücke zu groß, selbst für ein vollkommen ausgewachsenes Geparden-männchen. Und da war noch etwas anderes.
    »Die Krallen fehlen«, murmelte Nia vor sich hin, ehe sie aufsah und ihrer Tante einen triumphierenden Blick zuwarf.
    »Die Krallen? Wie bitte?« Ardhis Blick ließ erahnen, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wovon Nia sprach.
    »Es ist ganz einfach«, begann Nia zu erklären. »Erinnerst du dich an das, was Shahidi uns zu Beginn der letzten Trockenzeit über Geparden erzählt hat? Du warst dabei!«
    Noch immer schien Ardhi nicht zu wissen, worauf ihre Freundin hinaus wollte. »Nun, ich gebe zu, dass ich Shahidis Worten selten viel Gehör schenke. Es ist das erste Mal, dass ich es tatsächlich bereue. Also bitte, klär mich auf.«
    Einer afrikanischen Legende zufolge gab es einst vor vielen Jahren, als die Welt noch jung war, ein Wettrennen zwischen den Landtieren. Es sollte für alle Zeit klarstellen, welches der Tiere der schnellste Läufer unter der Sonne war. An diesem Rennen nahmen neben dem Geparden auch die graziöse Gazelle und der flinke Wildhund teil. Alle drei waren überzeugt davon, schnell wie der Wind zu sein und jeden anderen Savannenbewohner schlagen zu können.
    Als das von den Tieren lang erwartete Rennen begann, war es der Gepard, der augenblicklich die Führung übernahm, dicht gefolgt von der Gazelle. Der Wildhund dagegen blieb weit zurück und schon sehr bald musste er einsehen, dass es gegen diese beiden Kontrahenten keinen Sieg zu holen gab.
    Das Ziel war schon nahe und somit auch der Titel, da begann der Gepard seine letzten Reserven auszuschöpfen und legte noch einmal zu, im festen Glauben daran, dass er die Gazelle auf den finalen Sprüngen problemlos hinter sich lassen würde. Doch als er zurückblickte, um seine Verfolger auszumachen, musste er mit ansehen, wie die Gazelle in ihrem verzweifelten Versuch, mit dem Geparden Schritt zu halten, das Gleichgewicht verlor und stürzte.
    Als der Gepard dies sah, wurde ihm bewusst, dass der Titel zweitrangig war. Nur wenige Schritte von der Zielgeraden entfernt, machte er eine scharfe Kehrtwende, wobei seine Pfoten alle Mühe hatten, Halt zu finden. Staub und Sand wirbelten auf und es hätte nicht viel gefehlt und den Geparden hätte in seinem gewagten Manöver ein ähnliches Schicksal ereilt wie seine unglückliche Kontrahentin. Doch bevor seine Pfoten gänzlich den Halt verloren, fand der Gepard mit viel Glück sein Gleichgewicht wieder. Er eilte augenblicklich zu der am Boden liegenden Gazelle, die sich beim Sturz eines ihrer dünnen Beine gebrochen hatte. Vorsichtig half er ihr auf und stützte sie, während sie humpelnd die Bahn verließ und das Rennen somit aufgab.
    Der Wildhund, der nun als einziger verbliebener Teilnehmer für den Titel infrage kam, erkannte voll Bewunderung den Edelmut des Geparden. Auch er brach das Rennen auf der Stelle ab und lobte den Geparden für seinen Einsatz und sein Mitleid mit der Gazelle. Da er seine volle Wertschätzung aber nicht recht in Worte zu fassen wusste, machte er der flinken Raubkatze stattdessen ein Geschenk. Da er mitangesehen hatte, wie die Pfoten des Geparden während seiner scharfen Kehrtwende beinahe versagt hätten, gab er ihm seine eigenen.
    Seitdem ähneln die Pfoten des Geparden den Pfoten keiner anderen Raubkatze. Ihre Sohlenpolster sind härter und besitzen Rillen, die für besseren Halt in scharfen Kurven sorgen. Außerdem ist der Gepard als einzige Katzenart nicht in der Lage, seine Krallen einzufahren, da er sie selbst beim Laufen benutzt.
    Heute ist es allgemein bekannt und erwiesen, dass der Gepard der wahre Blitz der Savanne ist. Und nicht nur das, mit einer Höchst-geschwindigkeit von über einhundert Kilometern pro Stunde ist der Gepard das schnellste Landtier, das über die Oberfläche unseres Planeten sprintet. Und mag er möglicherweise auch Teile seines Edelmutes eingebüßt haben, so ist er doch immer noch ein beeindruckendes Beispiel an Geschwindigkeit und Agilität.


    »Die Krallen eines Geparden sind immer ausgefahren«, erklärte Nia. »Deshalb müsste man ihre Abdrücke erkennen können. Aber hier sind keine Krallenabdrücke, also kann die Spur nicht von einem Geparden stammen. Das gleiche gilt auch für Hyänen.«
    »Das ist clever, Nia«, sprach Ardhi, offensichtlich beeindruckt von so viel Scharfsinn. »Darauf wäre ich nicht gekommen.«
    Nia bemühte sich um ein möglichst bescheidenes Lächeln. Es war nicht das erste Mal, dass ihr Shahidis Wissen weitergeholfen hatte. Ganz sicher war es nicht verkehrt, der alten Löwin von Zeit zu Zeit zuzuhören.
    »Das Ganze führt uns dummerweise zu einem Problem.« Ardhi wurde wieder ernster. Mit der Schnauze deutete sie in Richtung des Kadavers. »So langsam gehen mir die Ideen aus, wer oder was hier auf der Jagd gewesen ist. Hast du vielleicht noch so einen Geistesblitz parat?«
    Auch Nia verging das Lächeln, als sie erst hinüber zu der toten Antilope sah und dann zurück zu den Spuren vor ihren Pfoten. Sicherlich gab es noch eine Vielzahl von möglichen Erklärungen für das, was hier geschehen war. Es war auch weniger die Tatsache, dass ein offenbar fremdes Tier hier ohne das Wissen des Rudels Beute gemacht hatte, die Nia beunruhigte. Vielmehr war es die Art und Weise, in der Nia auf diesen Fund gestoßen war, sowie das angespannte Gefühl in der Magengegend, das ihr der Anblick der Szenerie verschaffte.
    »Ich kann dir nicht sagen, was hier passiert ist.« Als ihre Gedanken zu kreisen begannen und die fremden und beängstigenden Bilder, die sie während ihres Sturzes gesehen hatte, noch einmal vor ihrem geistigen Auge entlang zogen, legte Nia beinahe instinktiv eine ihrer Pfoten in den Abdruck direkt vor ihr. Erst jetzt fiel ihr auf, wie groß er tatsächlich war, deutlich größer als ihr eigener oder Ardhis Abdruck.
    »Aber es würde mich nicht wundern, wenn wir es schon bald erfahren.«






    Erinnerungen



    Während der Nachmittag vorüberzog und der Abend sich allmählich ankündigte, begaben sich Nia und Ardhi zurück zu den Schlafplätzen des Rudels. Diese lagen auf einer Anhöhe am östlichen Rand des Plateaus, direkt an den Hängen und Klippen der Gebirgsausläufe. Hierher zogen sich die Löwinnen für gewöhnlich nach der Jagd zurück, um ausgiebig zu ruhen und neue Kräfte zu sammeln. Die in vielen unterschiedlichen Formen aus dem grasbewachsenen Boden aufragenden Stein- und Felsstücke ermöglichten es nicht nur, sich einen guten Überblick über weite Teile des Plateaus zu verschaffen, sondern boten zusätzlich auch Schatten. Hinzu kam, dass es hier zahlreiche Möglichkeiten gab, die Jungen des Rudels vor den Augen gieriger Räuber, wie zum Beispiel Hyänen, zu verstecken.
    Wie sich herausstellte, hatte Nia den Sturz gut überstanden, der Fußmarsch bereitete ihr keinerlei Probleme. Auf dem Weg blieb sie Ardhi gegenüber jedoch wortkarg und verbrachte die meiste Zeit in Gedanken. Es gab vieles, worüber es sich nachzudenken lohnte, insbesondere das Rätsel um die geheimnisvollen Spuren, die sie gefunden hatten und die ausgesprochen merkwürdige Art und Weise, wie es zu diesem Fund gekommen war. Ardhi schien es nicht zu stören, dass Nia so schweigsam war. Tatsächlich war die ältere Löwin einiges gewohnt, was das manchmal ungewöhnliche Verhalten ihrer Freundin anging. Was Nia jedoch nicht entging, war die leichte Andeutung von Sorge, die sie in Ardhis Zügen zu erkennen meinte. Über den Grund dafür konnte sie jedoch nur spekulieren.
    Als Ardhi sie die letzten Schritte bis hin zu den ersten verstreut liegenden Steinbrocken gebracht hatte, vergewisserte sie sich, dass Nia allein zurecht kam, ehe sie sich auf den Weg machte, die übrigen Löwinnen aufzusuchen und gegebenenfalls zu unterstützen. Ob den Jägerinnen mit vereinten Kräften an diesem Tag noch ein Fang gelingen würde, stand jedoch in den Sternen. Irgendwann würde sich die Erschöpfung bemerkbar machen. Abgesehen von ihrer Unterstützung bei der Jagd hatte Ardhi auch vor, Samaha über den ungewöhnlichen Fund zu unterrichten, den sie und Nia gemacht hatten und in Erfahrung zu bringen, ob eine der anderen Löwinnen vielleicht doch vor kurzem im Alleingang Jagderfolg gehabt hatte, ohne dass Nia und Ardhi davon etwas mitbekommen hatten. Das war immerhin nicht völlig auszuschließen, wenngleich weder Ardhi noch Nia daran glaubten.
    »Falsafas Pranken sind mehr als breit genug, um auf die Spuren zu passen«, scherzte Ardhi. »Manchmal erinnern sie mich eher an Elefantenfüße als an Pfoten.«
    Mit einem aufmunternden Lächeln verabschiedete sich die Löwin und Nia sah ihr noch einige Augenblicke hinterher, ehe sie sich vom Plateau abwandte, um sich einen Platz zwischen den Felsen zu suchen und sich zu erholen. Innerlich war sie erleichtert, dass das Jagen für sie heute ein verfrühtes Ende genommen hatte. Was sie nun wirklich brauchte, war etwas Einsamkeit, um über das nachzudenken, was geschehen war. Denn ganz gleich wie sehr sie sich auch bemühte, ihren Geist freizumachen, ihre Gedanken kreisten immer wieder um ihren Sturz und die merkwürdigen Eindrücke, die ihre Sinne vernebelt hatten.
    Mit einer Mischung aus Beklommenheit und Ehrfurcht rief Nia sich den gewaltigen Strom, der unbändig und unaufhaltsam das gesamte Land überzogen und alles Leben unter sich begraben hatte, noch einmal ins Gedächtnis. So real die Eindrücke im Moment des Sturzes auch gewirkt hatten, nun, da sie daran zurück dachte, verblasste die Erinnerung bereits. Was blieb waren bestimmte Details, die in den Vordergrund rückten, allen voran der bodenlose, schwarze Abgrund, der sich inmitten all des anderen Unheils unter den Pfoten der Löwin aufgetan hatte sowie der fremde Schrei, der ihr durch Mark und Bein gegangen war und sie noch immer erschaudern ließ, wenn sie an ihn dachte. Was lebte dort unten in der Tiefe, das solche Schreie auszustoßen vermochte? Was auch immer es war, es schien furchtbare Qualen zu durchleiden, Schmerzen, die tiefer einschnitten als jede Wunde. Gleichzeitig spiegelte der Schrei so etwas wie eine feurige Wut wieder, ein gieriges Lechzen nach Rache.
    Tatsächlich war es nicht das erste Mal in ihrem Leben, dass Nia in einem ihrer Träume Zeugin eines solchen Horrorszenarios geworden war. Vor mehreren Jahren, sie war noch ein Kind gewesen, war etwas verblüffend Ähnliches geschehen. Wann immer sie seitdem versucht hatte, zu beschreiben, was genau sie damals erlebt hatte, war sie ins Stocken geraten. Denn genau wie heute hatten ihr auch damals die Worte gefehlt, um die Gefühle zu beschreiben, die sie beim Wahrnehmen der fremden Eindrücke verspürt hatte. Große Furcht hatte sie durchdrungen. Aber nicht etwa vor dem Fremdartigen selbst, sondern vielmehr vor dem, was es ihr zu vermitteln versucht hatten. Die Vision hatte ihr offenbart, dass etwas Schreckliches geschehen würde, ein traumatisches Ereignis, das unmittelbar bevorstand und ihr Leben für immer verändern würde. Und so war es gekommen.
    Mit einem Ruck wandte sich Nia im Liegen herum und verlagerte ihr Gewicht auf ihre linke Körperhälfte, die Beine zur Seite abgelegt. Ihre Augen starrten in den weiten, azurblauen Himmel und auf das einzige Anzeichen eines Wolkenfetzens, das sich dort in weiter Ferne erahnen ließ. Eine ihrer Vorderpfoten zuckte nervös. Im nächsten Augenblick hatten die Erinnerungen sie in ihren Bann gezogen.


    Sie hockte nicht mehr als ein paar Schritt weit von ihrem Ruheplatz entfernt auf einem kleinen Vorsprung an einem der höheren und spitzeren Felsen der Formation. Es war früher Morgen und die zahlreichen, in farbenfrohe Federn gekleideten Vögel in den Geästen der nahebei stehenden Bäume pfiffen und sangen, während sie wild flatternd von Ast zu Ast sprangen und sich gegenseitig aufscheuchten. Nia sah auf zu eben jenem fernen Punkt am Himmel, an dem lediglich ein leichter Dunstschleier zu erkennen war. Mit zitternden Beinen krallte sie sich fest, um nicht abzurutschen. Der harte Stein machte es ihr dabei nicht leicht.
    »Nia, komm herunter. Du wirst stürzen und dir sämtliche Knochen brechen, wenn du nicht aufpasst!« Ardhi stand unten zwischen den Felsen. Mit besorgter Miene sah sie zu Nia herauf.
    »Ich möchte nicht zu euch kommen«, sprach Nia abweisend. »Hier oben ist es besser. Hier höre ich ihre Schreie nicht.«
    Für einen Augenblick hüllte sich Ardhi in Schweigen, offenbar von der Direktheit der jungen Löwin vor den Kopf gestoßen. Doch rasch hatte sie sich wieder gefangen.
    »Deine Mutter braucht dich jetzt, Nia. So, wie du sie bisher gebraucht hast. Ich weiß, dass du ihr sehr, sehr wichtig bist. Also bitte komm herunter. Lass uns zu ihr gehen, damit sie dich sehen kann. Sie möchte dich wirklich sehr gerne sehen.«
    »Aber ich möchte sie nicht sehen.«
    Mit Hilfe ihrer noch nicht ausgewachsenen Vorderpfoten zog Nia sich ein Stück voran, weiter nach oben, immer dem Himmel entgegen und der Sonne, die sich im Osten erhoben hatte.
    »Wir beide wissen ganz genau, dass du das nicht ernst meinst.«
    Trotzig wandte Nia den Blick ab. Sie hatte nichts mehr zu sagen. Stattdessen konzentrierte sie sich wieder auf das Klettern, vielleicht schaffte sie es ja noch weiter hinauf, wo sie nicht einmal mehr ihre Tante würde hören müssen. Mit großer Vorsicht hob Nia eine ihrer Pfoten an und streckte sie weit aus, um an die Felskante über ihr zu gelangen.
    »Weglaufen wird deine Probleme nicht lösen«, sprach Ardhi laut und deutlich aber gleichzeitig verständnisvoll. »Du darfst dich nicht verschließen, das wird es nur noch schlimmer für dich machen. Du musst dich... Nia, Vorsicht!«
    Eine von Nias Hinterpfoten war mit einem Mal abgerutscht, nachdem die kleine Löwin ihr zu viel Gewicht zugemutet hatte. Nia verlor nach und nach den Halt, verzweifelt kratzten ihre kurzen Krallen über den nackten Stein. Doch es war bereits zu spät. Sie würde fallen und sich alle Knochen brechen, so wie ihre Tante es prophezeit hatte.
    Ein Ruck fuhr durch Nias gesamten Körper, als Ardhi ihr Nackenfell mit den Zähnen zu packen bekam. Die erwachsene Löwin war in Windeseile vorgeschnellt und mit einem weiten Satz die Felsseite hinaufgesprungen, bis hin zu dem schmalen Vorsprung, auf dem Nia sich befand. Sie hatte ihre Nichte gerade noch rechtzeitig erreicht, bevor diese mit dem Rücken voran drei Schritt tief auf den harten Stein gestürzt wäre. Elegant stieß sie sich von der schrägen Felsoberfläche ab und landete mit einem Satz im trockenen Gras. Dort setzte sie die kleine Löwin zu ihren Pfoten ab. Von Schuldgefühlen geplagt, begann Nia zu wimmern und zu schluchzen.
    »Es tut mir Leid. Ich wollte nur nach ganz oben... ich...«
    »Ist schon in Ordnung«, sprach Ardhi mit einfühlsamer Stimme und ihre Schnauze streichelte sanft über Nias Rücken. »Es geht dir gut, das ist das Wichtigste.«
    Ihre Tränen unterdrückend presste Nia ihre Schnauze tief in das weiche Fell ihrer Tante. Ihr Herzschlag ging schnell und sie stand noch immer unter Schock.
    »Wie sieht es nun aus?«, fragte die ältere Löwin schließlich, nachdem Nia sich ein wenig beruhigt hatte. »Gehen wir jetzt deine Mutter besuchen? Ich bin mir sicher, dass sie sich sehr über deinen Besuch freuen wird.«
    Nia schniefte und nickte. Doch ihre Augen verrieten eine Furcht, die so tief reichte wie die Wurzeln eines Baobab ins Erdreich greifen.
    »Ardhi«, sprach sie und ihre Stimme wurde dünn und leise, kaum mehr als ein Flüstern, als würden ihre Worte allein etwas Verbotenes bedeuten. »Ich habe gesehen, wie sie stirbt.«
    Nia wagte nicht aufzusehen aus Angst, Ardhi könnte sie auslachen.
    Doch Ardhi lachte nicht. Sie war aufmerksam. »Wo hast du das gesehen?«
    Nia stammelte weiter: »In meinem Traum. Da war dieses tiefe, schwarze Loch im Boden. Mutter ist in das Loch hinabgestürzt und hat geschrien. Sehr laut geschrien. Dann hat der Boden sie verschluckt.«
    Ein Augenblick des Schweigens verstrich. Noch immer erklang deutlich das Zwitschern der Vögel von den Bäumen in der Nähe.
    »Das war nur ein Traum«, erklärte Ardhi. Doch irgendetwas in ihrer Stimme war anders als zuvor. Sie schien nun sehr viel besorgter.
    »Ardhi?«, fragte Nia vorsichtig und sah zu ihrer Tante auf. »Wirst du bei ihr bleiben? Den ganzen Tag und die ganze Nacht?«
    »Sie ist meine Schwester. Ich würde ein Leben lang an ihrer Seite warten, wenn es nötig ist, um sie wieder gesund und munter zu sehen.«
    Nia hatte verstanden. Sie nickte dankbar. Trotz ihres geringen Alters wusste sie, dass unter den Löwinnen des Rudels eine innige Beziehung bestand, die nicht so einfach zerbrach.
    »Wirst du auch bei mir sein?«
    Als Ardhi in Nias Augen sah, blickte sie tiefer in sie hinein, als es jemals eine andere Löwin getan hatte.
    »Wann immer du mich brauchst.«
    Nia lächelte schwach und schmiegte sich an Ardhis warmes Bein.
    »Danke.«
    »Nia?«
    Nia schreckte hoch. Ihr Atem ging schwer und schnell, während sie nur langsam zur Besinnung kam. Sie lag noch immer an ihrem Schattenplatz zwischen des Felsen. Die Sonne hatte ein wenig an Kraft verloren und der Wolkenfetzen am Himmel hatte sich aufgelöst, ansonsten war die Welt um sie unverändert.
    Als sie sich nach der Stimme umsah, die sie angesprochen hatte, erkannte sie Nadhari. Die Löwin kam vom Plateau aus auf sie zu.
    »Verzeih mir, ich wollte dich nicht erschrecken.« Zögerlich blieb sie stehen und wartete ab, bis Nia sich erhoben hatte, ehe sie nähertrat. Von allen Löwinnen des Rudels war sie Nia am ähnlichsten, nicht nur was ihre Fellfarbe und die eher zierliche Gestalt anging, auch ihre vorsichtige und zurückhaltende Art stand Nia in nichts nach. Im Gegensatz zu Nia wurde sie von den anderen Rudelmitgliedern jedoch als geschickte und talentierte Treiberin geschätzt und war bei der Jagd unverzichtbar. Daher wunderte es Nia, dass sie nun hier war und nicht bei den anderen Jägerinnen, wo Nia sie zuletzt gesehen hatte.
    »Ardhi sagte mir, dass ich dich hier finden würde, ich habe sie unterwegs getroffen«, sprach Nadhari und lächelte mild. »Es gibt gute Neuigkeiten, wir haben nicht weit von hier zwei Impalas erlegt. Es ist kein Festmahl, aber wenn du dich beeilst, bekommst du sicher noch etwas ab. Vorausgesetzt der Alte beansprucht nicht alles für sich.«
    Der Alte war der Kosename, den die Löwinnen ihrem Rudelführer Tazamaji verliehen hatten und den sie nur dann benutzten, wenn er nicht anwesend war. Für gewöhnlich sicherte Tazamaji sich einen nicht gerade bescheidenen Teil der Beute, ließ den Löwinnen und ihren Jungen aber stets gerade genug, dass niemand auf die Idee kam, sich zu beschweren. Während der Jagd hielt er sich nicht selten schon in unmittelbarer Nähe auf, damit er rechtzeitig vor Ort war, nachdem der Wind den Geruch frischer Beute bis an seine Schnauze getrieben hatte.
    »Ich kann dich hinführen, wenn du möchtest«, bot Nadhari an.
    Doch Nia lehnte ab. Sie sagte, dass sie den Weg schon alleine finden würde, wenn sie dem Geruch folgte. Zunächst müsste sie sich dehnen, so wie die Löwinnen es für gewöhnlich nach dem Schlafen taten.
    Die Wahrheit war jedoch, dass Nia wenig Appetit verspürte. Die Gedanken und Erinnerungen, die sie heimsuchten, ließen ihr wenig Gelegenheit sich auf etwas so banales wie Fressen zu konzentrieren. Hinzu kam, dass sie wenig Begeisterung verspürte bei dem Gedanken, noch einmal vor Imani, Falsafa und die anderen treten zu müssen. Sie fürchtete sich vor den verächtlichen und erniedrigenden Blicken und wollte sie heute nicht mehr auf sich gerichtet spüren. Lieber hungerte sie.






    In der Abendkühle



    Der alte Bergweg fand seinen Anfang unweit der Schlafplätze des Rudels. Es handelte sich um kaum mehr als einen Trampelpfad, der, mal schmaler und mal breiter, in bogenförmigen Schwüngen hinauf ins Hochland verlief. Vermutlich war er früher von Gazellen oder anderen kleineren Antilopenarten zurecht getreten worden, die während der Trockenzeit im höher gelegenen Bergland nach Nahrung oder einer Wasserquelle gesucht hatten. Die Löwen mieden ihn für gewöhnlich, zum einen, da er über kürzere Stücke hinweg steil und unwegsam war, zum anderen, weil es weiter oben im Gebirge zwischen kantigen Felsen und nacktem Stein wenig gab, was einen Räuber der Savanne interessierte. War in der Vergangenheit die Beute auf dem Plateau knapp geworden, so hatte es die Löwinnen vielmehr hinaus auf die Ebenen gezogen. Tatsächlich wusste niemand aus dem Rudel, wohin der Pfad überhaupt führte und es kümmerte auch niemanden.
    Gerade deshalb war es ungewöhnlich, dass eine einzelne Löwin am späten Abend dem Verlauf des Weges folgte. Zielstrebig kletterte sie voran, ein gutes Stück zwischen überwucherten Felsen und vereinzelten Sträuchern. Erst als sie einen bestimmten Abschnitt des Pfades erreicht hatte, verließ sie ihn und lief eine Weile am Hang entlang in südlicher Richtung, bis sie eine ebenere Fläche erreichte, die nur spärlich mit Büschen und Gräsern bewachsen war. Hier hielt sie inne und blickte hinab auf das Plateau, das nun weit unter ihr lag und über das sie problemlos hinwegsehen konnte. Weit voraus konnte sie hinter der kleineren Hügel- und Bergkette, die das Plateau im Westen abgrenzte, einen fahlen Schimmer erkennen. Das letzte Lebenszeichen der Sonne an diesem Tag.
    Nia keuchte. Der rasche Aufstieg hatte sie viel Kraft gekostet, doch das war es wert gewesen. Es war nicht das erste Mal, dass sie Zeugin dieses Anblicks wurde, aber es gelang ihm immer wieder aufs Neue, sie in ihren Bann zu ziehen.
    Die Löwin trat hinüber zu einer Ansammlung von Steinen und Sträuchern, die mit hellen Blüten übersät waren. Dort legte sie die braunen, länglichen Früchte ab, die sie im Maul bis hierher getragen hatte, verneigte sich knapp und schloss die Augen.
    »Es ist schön, wieder hier zu sein«, sprach sie, obwohl niemand außer ihr anwesend war, und sog den süßlichen Duft der Blüten ein. »Ich bin froh, dass du den Sturm heil überstanden hast. Auf dem Plateau habe ich ganze Bäume gesehen, die der Wind samt Wurzeln aus der Erde gerissen hat. Einen so kräftigen Orkan habe ich noch nicht erlebt. Es war furchteinflößend und gleichzeitig so fesselnd, dass man nicht weggucken konnte, selbst wenn man es wollte.«
    Nia dachte zurück an die peitschenden Windböen, die zuckenden Blitze und den grollenden Donner.
    »Du brauchst dir jedenfalls keine Sorgen zu machen, Ardhi und den anderen geht es gut. Mutter Natur war noch einmal gnädig zu uns, sie hat lediglich ihre Zähne gezeigt.«
    Die Löwin öffnete die Augen und betrachtete die überwucherten Steine vor ihr, die sie schon so oft gesehen hatte, die sich über all die Zeit aber kaum verändert hatten. Dann, plötzlich, erinnerte sie sich an etwas. Mit der Schnauze deutete sie auf die braunen Früchte, die sie vor ihren Pfoten im Gras platziert hatte.
    »Das sind Tamarinden, ich habe sie vorhin am Flussufer gefunden. Man kann sie essen, sofern man in der Lage ist, die harte Schale mit den Zähnen zu knacken. So haben es die Affen am Fluss gemacht, man konnte sie gut beobachten. Probier' es einfach mal! Sie schmecken ein wenig sauer, aber mir gefällt es.«
    Die Löwin legte sich auf alle vier Pfoten und nahm eine der Tamarindenfrüchte seitlich zwischen die Zähne. Ein Knacken erklang, daraufhin fielen Stücke der zersplitterten Schale hinab ins Gras. Nia legte die Frucht wieder vor sich ab und sah triumphierend auf. »Siehst du? Es ist nicht schwierig.«
    Sie schwieg eine Weile und das Gras und die Sterne schwiegen mit ihr. Von irgendwo auf dem Plateau drang das Kreischen eines Vogels heran. Dann war es wieder still.
    »Ich habe heute etwas gesehen«, sprach Nia schließlich und starrte nachdenklich auf die zerbrochene Frucht zu ihren Pfoten. »Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube es war so etwas wie... wie ein Zeichen. Eine Vorahnung. Es ist während der Jagd passiert, kurz bevor Ardhi und ich die Überreste einer Antilope gefunden haben.«
    Nia zögerte in dem Versuch, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Sie hatte sich den verbliebenen Tag über viele Gedanken gemacht, hatte aber mit niemandem aus dem Rudel weiter über ihren Sturz gesprochen.
    »Es ist schwierig, meine Eindrücke zu beschreiben, alles ging so schnell. Ich würde ja selbst sagen, dass es nur eine Einbildung war, wenn da nicht dieses Gefühl wäre. Ich glaube, man wollte mich auf etwas aufmerksam machen.«
    Ein wenig bedrückt angesichts ihrer Unfähigkeit, sinnvollere Schlüsse aus dem zu ziehen, was sie gesehen, gehört und gefühlt hatte, blickte Nia hinaus auf das weite Land, das im dunklen Schatten lag. Wer wusste schon, welche Geheimnisse dort unten zwischen Bäumen, Sträuchern und Felsen verborgen lagen?
    »Denkst du er war es?«, fragte sie schließlich. »Möchte er mich vor etwas warnen? Vor dem Abgrund, der kommt, um uns alle zu verschlingen? Aber warum warnt er ausgerechnet mich? Was kann ich unternehmen, um das Unheil zu verhindern? Ich glaube kaum, dass die anderen mir Glauben schenken werden, nicht einmal Ardhi. Ich glaube mir selbst ja kaum. Aber wenn er es ist, der mir unsere Zukunft gezeigt hat, dann müssen wir so schnell wie nur möglich handeln. Wir müssen weg von hier, hinaus auf die Ebenen, um irgendwo einen sicheren Ort zu finden, an dem der schwarze Abgrund uns nicht erreichen kann. Ich weiß nicht, wie ich die anderen von so etwas überzeugen soll.«
    Nia nahm eine weitere Frucht zwischen die Zähne, legte den Kopf auf ihren Vorderbeinen ab und atmete tief durch, um die frische Brise einzuziehen, die der Abend mit sich gebracht hatte. Mit einem Knacken zersprang die Schale.


    Samaha lag am Fuße des Bergpfads und blickte hoch in das Gewirr von Anhöhen und Gesteinswänden, das sich bis hinauf in das hohe Gebirge zu ziehen schien. Die Augen zu Schlitzen verengt versuchte sie Bewegungen in der Dunkelheit der Nacht auszumachen. Doch es rührte sich nichts, alles war so leblos wie sie es kannte.
    »Bist du sicher, dass sie den Bergweg genommen hat?«, fragte Samaha, während sie die Felsen weiter sorgfältig inspizierte.
    Als sie nach einigen Augenblicken noch immer keine Antwort von ihrer Begleiterin erhalten hatte, wandte sich Samaha vom Bergpfad ab und der Ältesten zu, die nur einige Schritt weit von ihr entfernt im Gras lag. Shahidis Kopf lag seitlich auf der Erde, ihr Maul hatte sie leicht geöffnet. In regelmäßigen Abständen erklang ein röchelndes Schnarchen, während Speichel in einem Rinnsal über ihre Lefze auf den Boden tropfte. Die Rudelälteste war es ganz offensichtlich nicht gewohnt, um diese Tageszeit auf den Beinen zu sein. Nicht, dass es eine andere Tageszeit gegeben hätte, zu der sie aktiver gewesen wäre.
    »Shahidi«, zischte Samaha eindringlich.
    Falls das, was die Älteste gesagt hatte, stimmte, so hatte sich Nia vor den übrigen Löwen zurückgezogen, um alleine zu sein. Nach dem, was heute geschehen war, konnte Samaha es ihr nicht übel nehmen. Eigentlich hatte sie die junge Löwin nur kurz aufsuchen wollen, um ihr mitzuteilen, was sie mit Ardhi bezüglich der Jagd besprochen hatte. Doch als sie sie nach dem Gespräch mit Ardhi nirgendwo hatte finden können, hatte sie damit begonnen, die anderen Rudelmitglieder nach ihrem Verbleib zu fragen. Offenbar hatte außer Samaha selbst niemand ihr Verschwinden bemerkt. Lediglich die alte Shahidi war der Meinung, sie hätte Nia in Richtung des alten Bergpfades davonschleichen sehen. Also hatte Samaha beschlossen, hier im Gras auf Nia zu warten und die Älteste dabei gleich mitgenommen. Bislang war jedoch weit und breit keine Spur von der jungen Löwin zu sehen und langsam aber sicher war Samaha das Warten Leid. Im Gegensatz zu Shahidi würde sie abseits der Schlafplätze wohl kein Auge zubekommen.
    »Hey! Wach auf!«
    Ein verschnupftes Grunzen erklang, gefolgt von einem feuchten Schmatzen. Dann erhob sich Shahidi sichtbar mühselig aus dem Gras.
    »Verzeih mir. Ich bin wohl kurz eingenickt.«
    Das schläfrige Krächzen untermalte Shahidis ohnehin vom Alter gezeichnete Stimme. Nichtsdestotrotz strahlte die Löwin aber wie immer eine gewisse Sanftmut aus. Soweit Samaha sich erinnern konnte, hatte sie die Älteste noch nie aufgebracht oder gar wütend erlebt.
    »Ist Nia schon zurück?«, fragte Shahidi und blinzelte. »Ich sehe sie gar nicht. Aber meine Augen sind auch nicht mehr die besten.«
    Samaha schüttelte den Kopf. »Du sagtest, sie sei hier entlang gegangen. Bist du dir sicher?«
    »Oh ja, in sternklaren Nächten wie diesen ist sie oft bei ihrer Mutter.«
    Samaha zuckte zusammen. »Bei ihrer Mutter?«
    Nias Mutter hatte das Rudel vor einer ganzen Weile verlassen. Schwer krank hatte sie Zuflucht in den Bergen gesucht, im festen Glauben daran, ein mysteriöses, fremdes Wesen, das sie als den Löwen des Berges bezeichnet hatte, würde dort auf sie warten und sie von ihrem Leiden befreien. Sie war nie zurückgekehrt.
    Samaha hatte nie viel von ihrer Geheimnistuerei und ihrer ausgesprochen lebendigen Fantasie gehalten. Nichtsdestotrotz hatte der Verlust auch sie damals hart getroffen. Nia war zu dem Zeitpunkt noch ein Kind gewesen, sie hatte kaum auf ihren eigenen vier Pfoten stehen können. Wäre Ardhi damals nicht zur Stelle gewesen, um sich um sie zu sorgen - niemand hätte gewusst, was mit ihr geschehen wäre. So aber war Nia aufgewachsen wie jede andere Löwin des Rudels, mit der gleichen Wärme und der gleichen Zuneigung. Zumindest war Samaha bis jetzt immer davon ausgegangen.
    »Nias Mutter hat damals genau diesen Pfad hinauf in das Gebirge gewählt«, erklärte Shahidi. »Das hat Nia nie vergessen. Deshalb kommt sie immer wieder hierher zurück.«
    »Verstehe. Und bleibt sie immer so lange weg? Warum ist mir das eigentlich noch nie aufgefallen?«
    Shahidi sah hinauf zu den Sternen, als würde die Antwort auf die Frage ihrer Freundin irgendwo dort stehen.
    »Nun«, sprach sie, so langsam dass es den Anschein hatte, sie müsse sich an jedes ihrer Worte einzeln erinnern. »Nia gehört nicht gerade zu denen, die besonders gut darin sind, aufzufallen. Daher bemerkt auch selten jemand ihr Fehlen. Hinzu kommt, dass sie leise wie ein Schatten ist. Die Eigenschaft einer guten Jägerin, heißt es.«
    »Eine gute Jägerin besitzt viele Eigenschaften«, entgegnete Samaha streng. »Und in Nia erkenne ich nur wenige davon.«
    »Vielleicht braucht sie einfach noch Zeit.«
    Samaha schnaubte beifällig. »Das hat Ardhi auch gesagt. Ihr beide habt wirklich gut Reden, ihr müsst die Misserfolge ja auch nicht dem Alten erklären. Nein, Shahidi, wir haben nicht die Zeit, darauf zu warten, dass eine Löwin wie Nia endlich erwachsen wird. Wir alle machen Fehler, das sehe ich ein. Aber wenn Nia sich weiterhin so ungeschickt verhält, wird sie in Zukunft selbst mit Tazamaji darüber reden müssen. Ich werde es jedenfalls nicht mehr tun.«
    Aus dem Augenwinkel fiel Samaha ein Schatten auf, der sich den geschwungenen Pfad herabbewegte. Offenbar hatte Nia ihr kleines Tête-à-Tête mit ihrer Mutter beendet. Als sie näher kam, erkannte Samaha ganz deutlich ihre Züge. Mit einer überbetonten Geste machte sie Shahidi auf den Neuankömmling aufmerksam, dann erhoben sich die beiden Löwinnen und traten aus dem hohen Gras hervor.
    Nia wirkte überrascht sie zu sehen, was nicht verwunderlich war. Außerdem lag in ihrem Blick etwas, das stark an Scham erinnerte. Als wäre sie der Meinung, etwas Verbotenes getan zu haben. Immerhin schien sie keinerlei Anstalten zu machen, die Flucht zu ergreifen. Eine Reaktion, die Samaha ihr durchaus zugetraut hätte.
    »Verzeih uns, dass wir dir hier aufgelauert haben«, sprach Samaha, so sanft es ihr irgend möglich war, denn Sanftmut war nicht gerade eine ihrer Stärken. »Hast du etwas dagegen, wenn wir uns ein wenig unterhalten? Es heißt ja, die Nacht kenne viele Wahrheiten.«
    Nia nickte verständnisvoll, dabei gelang es ihr jedoch nicht sonderlich gut, ihre Anspannung zu verbergen.
    »In Ordnung«, fuhr Samaha fort, der das Nicken als Antwort genügte. »Shahidi möchte dir etwas sagen, das dir möglicherweise weiterhelfen wird. Sie hat früher vielen jungen Löwinnen das Jagen beigebracht und weiß selbst einiges darüber - auch wenn sie ein wenig aus der Übung sein mag.«
    Samaha wandte sich an Shahidi, die sich neben ihr niedergelassen hatte, da ihr das Stehen auf Dauer Schmerzen bereitete.
    »Erzähl Nia doch bitte deine kleine Geschichte.«
    Die alte Löwin wirkte verwirrt. »Was für eine Geschichte?«
    »Die Geschichte, die du Nia erzählen solltest. Wegen der ich dich gebeten habe, mit mir zu kommen.«
    Nachdenklich starrte die Rudelälteste in den Nachthimmel. Dann, plötzlich, schien sie sich zu entsinnen.
    »Ja, richtig. Die Geschichte.« Sie räusperte sich.
    »Nun... also... ich denke, es war vor ein paar Regenzeiten. Möglicherweise waren es auch ein paar Regenzeiten mehr als ich denke. Jedenfalls war da... etwas...«
    Die Älteste stockte. Offenbar hatte sie bereits den Faden verloren.
    »Ich bin mir sicher, dass es irgendetwas mit einem Löwen zu tun hatte.«
    Samaha stieß ein resigniertes Seufzen aus. »Du hast keine Ahnung, von was für einer Geschichte ich rede, nicht wahr?«
    »Um ehrlich zu sein... nein.« Shahidi lachte ein wenig beschämt.
    »Es tut mir Leid, was heute geschehen ist«, sprach Nia offen heraus und unterbrach damit die beiden Löwinnen. »Es soll nicht wieder vorkommen. Ich werde mich in Zukunft mehr bemühen.«
    »Das hoffe ich.« Nias plötzliche Reaktion hatte Samaha überrumpelt.
    »Kann es sein, dass dir irgendetwas zu schaffen macht?«, fragte Shahidi vorsichtig. »Möchtest du darüber reden?«
    Nia schwieg und starrte in die schwarze Leere der Nacht. Für Samaha sah es beinahe so aus, als würde die junge Löwin einen inneren Kampf austragen. Worum es dabei ging, konnte sie jedoch nur erahnen.
    »Es ist nichts«, sprach Nia, ohne den anderen in die Augen zu sehen. »Ich bin nur ein wenig durcheinander von meinem Sturz, das ist alles. Es wird vorübergehen.«
    Samaha warf einen Blick hinüber zu Shahidi. Wenn die Alte skeptisch war angesichts des Wahrheitsgehalts von Nias Worten, so ließ sie es sich nicht anmerken.
    »Nun gut«, sprach Samaha, als klar war, dass Nia ihrer Aussage nichts mehr hinzuzufügen hatte. »Ich habe jedenfalls mit Ardhi gesprochen und wir sind uns einig, dass es das Beste ist, wenn du dir ein paar Tage Abstand von der Jagd gönnst. Sie hat vorgeschlagen, dass du Kimya bei der Beaufsichtigung ihrer Jungen unterstützt. Ist das in deinem Sinne?«
    »Ich danke euch dafür«, entgegnete Nia knapp. Ganz offensichtlich schien es sie nicht sonderlich zu interessieren, was Ardhi und Samaha ausgemacht hatten. Ihre Worte klangen hohl und leer und ihre Augen schienen die anderen Löwinnen nicht zu erkennen. »Wenn es in Ordnung ist, würde ich mich gerne zurückziehen.«
    »Geh nur und ruh' dich aus. Deinen Platz in diesem Rudel wirst du schon noch finden«, sprach die alte Shahidi und lächelte freund-lich und von Herzen.
    Nia bedankte sich ein weiteres Mal, ehe sie sich in Richtung der Schlafplätze entfernte und eine ratlose und skeptische Samaha zurückließ.
    »Was machen wir nur mit ihr? Sie hört uns ja nicht einmal richtig zu.«
    »Vielleicht braucht sie einfach noch Zeit«, wiederholte Shahidi.
    »Glaubst du, es ist tatsächlich der Sturz, der sie durcheinander gebracht hat?«
    Noch immer sah Shahidi Nias Gestalt im Dunkeln hinterher, obwohl ihre vom Alter getrübten Augen sie schon längst verloren haben mussten.
    »Nein, das glaube ich nicht«, sprach sie. »Ich glaube, es ist etwas anderes. Aber was auch immer es sein mag, es scheint sie wirklich sehr zu beschäftigen.«


    Nicht weit voraus konnte Nia die Schlafplätze ausmachen, dort wo die meisten Löwen des Rudels um diese Zeit üblicherweise zwischen Steinen und Felsen im Gras lagen und schliefen, sofern keine nächtliche Jagd anstand. Sie hatte den Weg unzählige Male zurückgelegt und hätte ihn selbst in völliger Finsternis gefunden.
    Während ihre Pfoten sie zügig vorantrugen, verfluchte sich die junge Löwin innerlich. Sie hatte soeben ihre beste Möglichkeit, das Rudel vor der drohenden Gefahr zu warnen, verspielt. Hätte Samaha ihr Glauben geschenkt, dann hätten es die anderen Löwinnen womöglich auch getan. Aber was hätte sie schon sagen sollen? Alles, was sie vorzuweisen hatte, waren finstere Vorahnungen und böse Omen. Sie musste unbedingt zunächst mehr in Erfahrung bringen, ansonsten würden sie alle für verrückt erklären, selbst Ardhi.
    Vielleicht stimmte es ja. Womöglich war sie wirklich verrückt geworden. Merkte ein Verrückter denn, dass er verrückt war? Wenn es wirklich so war, was konnte sie dann noch tun? Würde sie selbst womöglich zu einer Gefahr für das Rudel werden?
    »Du musst dich unter Kontrolle halten, Nia«, schärfte sie sich ein. »Du darfst die Zeichen nicht falsch deuten. Was weißt du denn schon? Ist es nicht denkbar, dass du dir alles bloß eingebildet hast? Kann ein heftiger Schlag gegen den Kopf als Folge eines Sturzes nicht auch dazu führen, dass man Dinge sieht und hört, die nicht da sind? Nichts von dem, was du spürst und fühlst ist gewiss, nicht einmal die Luft, die du atmest oder die Erde unter deinen Pfoten.«
    Nia beschleunigte ihre Schritte. Ihr Ziel war nun ganz nah. Sie spürte nicht, dass die Augen des Löwen, der nur unweit von ihr auf einem Felsen lag, sie sehr genau beobachteten und jede einzelne ihrer Bewegungen verfolgten, vom Kopf bis zur Schwanzspitze. Gier loderte auf, ein flammender Instinkt jüngerer Tage, ein Verlangen nach dem, was dem Löwen bisher verwehrt geblieben war.



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