Zwei Wochen sind seit der Nacht vergangen, in der das Schicksal zugeschlagen hatte. In jener Nacht hatte Liberty Clan sein Ende in Feuer und Verrat gefunden. Das Camp in dem geschützten, verwilderten Hinterhof, das Katzen, Menschen und Wandlern so lange Zuflucht geboten hatte, jener kleine Fleck Heimat und Sicherheit, hatte wie Zunder gebrannt, und mit ihm die Überreste seiner Verteidiger und Bewohner. Wer versucht hatte, zu fliehen, war von scharfen Krallen gepackt und in die Wand aus schwarzem Rauch zurückgezerrt worden, wo man ihm die Gliedmaßen einzeln ausriß. Die Schreie hatten die verbliebenen Krieger schier in den Wahnsinn getrieben, die sich weigerten, ihre Freunde, Partner und Verwandten ihrem Verderben zu überlassen. Doch aller Mut der Verzweiflung hatte den Bastet nichts genützt. Sie wirkten winzig im Vergleich zu den monströsen, mutierten Crinosformen der Tänzer, und sie starben langsame und grausame Tode, das hämische Gelächter ihrer Feinde in den Ohren.
Als die Verstärkung endlich eintraf, war es bereits zu spät. Rudel von Wölfen mit silbern funkelndem Fell bahnten sich ihren Weg durch die Feuersbrunst, die ihnen nichts anhaben konnte. Befehle wurden über Funk in der grollenden Hohesprache der Garou gebellt, automatische Waffen knatterten, Silberkugeln trafen ihre Ziele mit übernatürlicher Präzision. Die Tänzer der Schwarzen Spirale fielen unter dem Ansturm. Doch alles, was die Glass Walkers noch tun konnten, war den Clan zu rächen.
Heute ist ein regnerischer Februartag. Es ist zu warm für die Jahreszeit. Gaia hat Fieber.
Seit dem Angriff auf das Camp hat das schlechte Wetter angehalten und die Laune der New Yorker nicht unbedingt gehoben. Regentropfen trommeln auf sämtliche Oberflächen, Gullis laufen über, die Pfützen haben vielerorts bereits Knöcheltiefe erreicht.
Die klamme Kälte und der graue Himmel lassen die heruntergekommene Straße in der Bronx noch trostloser erscheinen, als sie es ohnehin schon tut. Ihr alle seid gut durchgeweicht, könnt aber gerade das Sauwetter halbwegs warm und komfortabel durch die Schaufensterscheiben von Bills Antiquitätenladen betrachten, an denen das Wasser in Strömen herabrinnt. Das elektrische Licht ist an, und trotzdem wirkt der Laden düster, da die staubigen, aufgestapelten Möbel und der sonstige Plunder, der sich im Inneren drängt, viel von der Helligeit schlucken.
Es riecht streng im Zimmer, und gelegentlich klappert es im Hintergrund, wenn eine Katze sich einen neuen Sitzplatz sucht oder einer anderen Katze eine Ohrfeige verpassen muß. Der Laden ist voll von ihnen.
Vor euch auf einem Tischchen (staubig) steht eine dampfende Teekanne (antik) und verschiedene leere Tassen und Gläser. Bill hat sich bereits eine Tasse eingeschenkt und hält sie in der Hand, während er schweigend aus dem Fenster schaut. Schließlich wirft er einen Blick auf sein Handy und dreht sich dann zu euch um.
„Kommt wohl keiner mehr“, meint er. „Und die Dame von den Glasswalkers verspätet sich auch. Na ja.“
Bill vom Stamm der Bone Gnawers ist ein alter, ergrauter Mann, dessen gebeugte Körperhaltung verschleiert, dass er in Wirklichkeit ziemlich groß ist. Er trägt ein zerschlissenes, schlabbriges T-Shirt und abgewetzte Jeans, und sein Blick wirkt zwar auf den ersten Blick mürrisch, aber bei genauerem Hinsehen enthält er eine Menge Wärme.
„Schön, dass ihr es wenigstens geschafft habt. Verdammte Schande, das alles. Tom und ich, wir waren Freunde.“
Abgesehen von Bill seid ihr zu viert im Laden. Die letzten Überlebenden des Liberty Clan. Mancher von euch mag sich bereits flüchtig kennen, für andere ist es der erste Kontakt mit euren Artgenossen, und euch erreichte nur ein förmlicher Anruf mit der Bitte, sich heute hier einzufinden, um den Nachlaß des Clans zu regeln, in dem ihr Verwandte hattet. Andere von euch mögen direkt in die Geschehnisse verwickelt gewesen sein. Ob ihr euer Entrinnen nun glücklichen Zufällen verdankt, die euch in der entscheidenden Nacht weit weg von New York geführt hatten, oder ob ihr rechtzeitig weggekommen seid – außer euch und den Katzen überall um euch herum ist keiner übrig.
Nach einem Schluck Tee fährt Bill fort:
„Wir müssen trotzdem dringend paar Angelegenheiten klären. Könn' ja schonmal anfangen. Ich hab paar Kisten voll mit dem Kram, den man aus eurem alten Camp geholt hat, der gehört euch. Könnt ihr mitnehmen, wann ihr wollt. Aber die ganzen Katzen! Die können nicht hierbleiben. Ich kann mich nicht alleine um die alle kümmern. Das sollte ja auch nur eine Notlösung sein. Als die Glasswalkers die hier abgeladen haben, hab ich natürlich gerne geholfen. Und die Hipster, die hier reinkommen, finden sie auch super. Aber mein Laden riecht wie ein Katzenklo, sie machen die Sachen kaputt... na ja – und die Biester hassen mich.“
Um seinen Standpunkt zu verdeutlichen, geht Bill ein paar Schritte auf eine graue Tigerkatze zu, deren Schnurrhaare von dem Brand noch versengt und gekräuselt sind, und macht Anstalten, sie zu streicheln. Sofort faucht die Katze ihn an, schlägt mit ausgefahrenen Krallen nach seiner Hand und flüchtet aus dem Zimmer.
„Siehste? Ach ja, und vor fünf Tagen hat eine Junge bekommen – auf dem antiken Sessel da hinten. Ich frag mich, wer mir den bezahlt.“
Bill seufzt.
„Werd ich die Dame mal fragen, wenn sie heute noch auftaucht. Aber solange... ihr kennt euch alle? Habt ihr schon ausgekaspert, wer jetzt das Sagen hat?“