Morgenrote Savanne: Probekapitel

  • Hier findet ihr den Prolog und die ersten fünf Kapitel von Morgenrote Savanne. Alles Weitere zum Buch steht hier: http://www.pride-lands.org/sho…vanne&p=438057#post438057
    Beachtet bitte, dass der Text für das Taschenbuchformat formatiert wurde, deswegen lässt er sich in dieser Form nicht ganz so gut lesen.


    Trotzdem wünsche ich viel Spaß beim Lesen!




    Prolog



    Tiefe Nacht liegt über der Savanne.
    Ein Land der Schatten, eine weite Ebene von Grau- und Schwarztönen so weit das Auge reicht, bis sich jeder Blick in vollendeter Finsternis zerstreut. Nur widerwillig gewährt das milde Sternenlicht den schärfsten Augen die Macht, das nächtliche Geschehen zu beobachten.


    Es ist still.
    So still, dass der eigene Atem einem wie das donnernde Grollen ganzer aufgebrachter Herden erscheint und jeder Schritt auf dem von vertrockneten Sträuchern und Halmen übersäten Boden einen nur zu gut daran erinnert, dass man schon mit dem nächsten Herzschlag zur Beute eines ebenso wachsamen wie hungrigen Jägers degradiert werden kann. Denn die Stille täuscht, die Savanne schläft niemals. Des nachts treten hier Tiere hervor, deren leibhaftige Existenz sich in den heißen Stunden des Tages nur erahnen lässt. Geschöpfe, Jäger wie Gejagte, erwachen aus ihrem tiefen Schlaf. Und manch einer, dem bei Sonnenschein kein Erfolg gegönnt war, findet nun, im Schutz der Dunkelheit, eine neue Gelegenheit.
    Doch nicht jeder Jäger hat das Glück, sich bei Sonnenaufgang noch am Leben zu wissen...


    Breite, gewichtige Pfoten schreiten über den staubtrockenen Boden hinweg, doch lassen sie kaum Spuren im Sand zurück, da ihre geschmeidige Art auf ebenso elegante wie tödlich effektive Weise die Kraft bannt, die in ihnen lauert. Der nächtliche Wanderer, dessen Körper in der Dunkelheit nur in Fetzen von Umrissen auszumachen ist, ächzt unter dem Gewicht, das er zu ziehen hat, das Gewicht seines Opfers. Lange, messerscharfe Zähne arbeiten sich durch Fell, Haut und Fleisch und packen fest zu, um das unglückliche Wesen, das des Jägers Geschick erlag, weiter voranzuzerren. Mit aller Kraft stemmt sich der Wanderer gegen den Boden und der leblose Körper gehorcht widerwillig seinem Befehl. Die Bestie keucht und ihr Fell ist über und über verklebt mit Sand und Erde.
    Der Wanderer hält inne, er lauscht. Der schrille Schrei eines Affen ertönt irgendwo in der Ferne. Erst jetzt fällt ihm das gemächliche, leise Plätschern auf, das wie eine sanfte Melodie die Stille der Nacht umspielt. Der Bach. Weit kann es nun nicht mehr sein.
    Gerade ist er drauf und dran, seine Beute zu packen und weiterzuschleppen, da hält der Räuber schlagartig inne. Er sieht auf, die Ohren gespitzt, und das sanfte Sternenlicht spiegelt sich in seinen Augen. Er hat etwas vernommen.
    In langen, ausführlichen Zügen zieht die Schnauze die kühle, nächtliche Luft ein und nimmt eine Witterung auf. Die stämmigen Beine der Raubkatze drücken sich durch und sie richtet sich zu ihrer vollen Größe auf. Wie jedes Lebewesen, das noch bei Verstand ist, vertraut sie ihren Sinnen.
    Als sie den Atem anhält, wird der Bestie nun eines deutlich bewusst: Sie ist nicht allein.


    Eine leichte Windböe greift die Äste der Savannenbäume und lässt das Laub rascheln, Sternenlicht spiegelt sich im lieblichen Bach. Schon bald wird es für die nachtaktiven Geschöpfe an der Zeit sein, sich in ihre Unterschlüpfe zurückzuziehen. Denn der Morgen rückt mit jedem verstreichenden Augenblick näher.

    4 Mal editiert, zuletzt von CoVou ()

  • Von Jägern und Gejagten



    Afrika – nirgendwo auf dieser Welt liegen Leben und Tod dichter beisammen in ihrem verwobenen, rätselhaften Tanz, nirgendwo erscheint das graziöse Spiel zwischen verzaubernder Schönheit und abstoßender Hässlichkeit fester verbunden. Wer Afrika kennt, der lernt es zu lieben, zu respektieren... und zu fürchten.
    Die »Wiege der Menschheit« nennen sie den schwarzen Kontinent auch, da hier das menschliche Leben seinen Anfang fand. Jahrmillionen der Evolution liegen unter dem heißen Sand und der roten Erde verborgen, Jahrmillionen der Geschichte des Lebens und des Todes. Wer einmal Löwenjunge am verrottenden Kadaver einer Antilope hat spielen sehen oder grüne Sprösslinge, die aus den verbrannten Überresten einer vom Blitz getroffenen Akazie emporkriechen, der weiß dies zu würdigen. Das Leben kann wunderschön sein, beinahe berauschend, und doch zugleich auch abscheulich und abstoßend.
    Häufig handelt es sich lediglich um eine Frage des Standpunktes.


    Das Gras stand hoch und hatte im Laufe der Trockenzeit eine goldgelbe Färbung angenommen. Die Spitzen der Gräser tanzten im leichten Wind, der über die Ebenen der Savanne schlich und allerlei mehr oder minder betörende Düfte mit sich trug. Zahlreiche Tiere hatten sich am Wasserloch versammelt, eine stattliche Herde, die sich immer noch mit den örtlichen Wasservorkommen begnügte, anstatt dem Regen zu folgen, der nun schon beinahe in Vergessenheit geraten war. Solange es genug für alle gab, fehlte vielen der Drang weiterzuziehen, den Artgenossen zu folgen auf ihrer beschwerlichen Reise, die nicht wenige von ihnen das Leben kostete.
    Aberdutzende Hufe zertrampelten Sträucher und Gestrüpp und wo die gierigen Mäuler, die täglich Tonnen an Grün zu schlucken vermochten, ans Werk gingen, war der Boden schon bald über weite Strecken kahl. Unzählige Hufe, gepaart oder ungepaart, sowie Augen, die stets wachsam waren, im vollen Bewusstsein der Gefahr, die hinter jedem Felsen, jedem Baum und jedem hochgewachsenen Strauch lauern mochte.


    Azima hatte im Gras unter einer der größeren Akazien Deckung gefunden. Den sehnsüchtig knurrenden Bauch presste sie fest gegen den sandigen Boden, während sie, die Ohren gespitzt, ihren Blick zielstrebig auf die Beute richtete. Jene Beute, die dort, in nicht all zu weiter Ferne, um das Wasserloch versammelt stand und sich dem Stillen ihrer alltäglichen Bedürfnisse widmete, Durst und Hunger.
    Auch Azima verspürte Hunger. Ihr letztes Mahl lag bereits gute drei Tage zurück, die magere Feldmaus vom Vortag nicht mitgerechnet, und so langsam schlug ihr Löwenmagen Alarm. Doch die Löwin wartete geduldig, wie es sich für eine gute Jägerin gehörte.
    Seitdem sie die Position, an der sie nun ausharrte, erreicht hatte, war die Sonne am Osthimmel bereits ein gutes Stück weiter gewandert. Das glühende Rot des Morgens war gänzlich gewichen und langsam aber beständig kündigte sich die gnadenlose Mittagshitze an. Wenn die Sonne den höchsten Punkt ihrer täglichen Reise erklommen hatte, wollte Azima längst im Schatten des Sonnenhügels mit gut gefülltem Magen ein wohlverdientes Nickerchen halten. So jedenfalls war ihr Plan. Bislang war es jedoch fraglich, ob dieser auch aufgehen sollte. Worauf wartete Majadi nur? Auf eine himmlische Offenbarung?
    Löwen jagen für gewöhnlich in Rudeln. Nicht immer, aber besonders dann, wenn es gilt, größere Ziele zu attackieren, steigen die Erfolgschancen mit der Anzahl der Jäger beträchtlich. Ein gut eingespieltes Team kann daher mit weitaus weniger Energieaufwand mehr Beute machen und somit die hungrigen Mäuler stopfen.
    Löwen? Genauer wäre »Löwinnen«, denn obwohl auch männliche Exemplare jener Gattung durchaus dazu im Stande sind, einem ausgewachsenen Zebra das Genick zu brechen, gilt es unter Löwen als gute Sitte, dass die Weibchen für die Versorgung des Rudels aufkommen. Eine Tatsache, die Azima als mehr als ungerecht empfand. Doch so war es Tradition und die junge Löwin dachte im Traum nicht daran, sich diesen uralten Sitten in den Weg zu stellen, jedenfalls nicht solange sie selbst im Großen und Ganzen nicht völlig leer ausging.
    Während sie im Schatten hockte, das beige Fell nahtlos mit der Umgebung verschmolzen, wurde Azima immer nachdenklicher zumute. Sie dachte an die Tage vor der Dürre, als das Land grüner gewesen war und die Herden größer und es immer irgendwo ein altes, schwächliches Tier gegeben hatte, das sich nicht allzu entschlossen seinem endgültigen Schicksal, nämlich im Magen einer Löwin zu landen, entgegenzustellen gewagt hatte.
    Doch obwohl seitdem kaum mehr als ein paar Monate vergangen waren, schien all das unendlich weit zurückzuliegen, Erinnerungen wie aus einem anderen Leben.
    Azima verlor sich so sehr in ihren Tagträumen, dass sie einen entsetzlich langen Augenblick benötigte, bis sie realisierte, was sich vor ihren Augen, eine großzügige Anzahl von Schritten voraus, abspielte. Dann, im nächsten Moment, sprang sie auf die Pfoten und riss die bernsteinfarbenen Augen in einem Anflug innigster Erwartung weit auf. Die Herde bewegte sich, sie war in Aufruhr geraten. Zunächst unbeholfen und offenbar orientierungslos irrten die Tiere durcheinander, bis sie sich in mehrere Gruppen aufspalteten und sich mit donnernden Hufen immer schneller voranbewegten, direkt auf Azima zu.
    Die Löwin spürte, wie ihr das Adrenalin durch die Adern schoss, ein Sturm aufbauschender Erregung, und sich ihr Herz vor Aufregung beinahe überschlug. Dann, im nächsten Moment, duckte sich Azima wieder auf den Boden, die Muskeln leicht zitternd angespannt. Wenn die Tiere sie jetzt bemerkten, wäre all das Warten umsonst gewesen und der Traum vom geruhsamen Mittagsschläfchen vollends zerplatzt. Jetzt nur keinen dummen Fehler begehen!
    Wachsam glitt Azimas Blick hinüber zur Quelle des Aufruhrs, wo sie ein vertrautes Gesicht zu erspähen hoffte. Und tatsächlich... Zwischen dem von den zahlreichen Hufen aufgewirbelten Sandstaub erkannte sie Majadis in der Sonne glänzendes Fell. Die Löwin preschte den Beutetieren hinterher, trieb sie weiter voran. Für ihr Alter war sie noch immer ausgezeichnet in Form, ein großes Vorbild für Azima und die anderen jungen Weibchen des Rudels.
    Langsam aber sicher spitzte sich die Situation zu. Die Herde hatte sich in ihrer Panik zerstreut und eine kleine Gruppe aus Zebras, drei ausgewachsene und zwei Jungtiere, waren drauf und dran Azimas Versteck in eine Hölle wütend trampelnder Hufe zu verwandeln. Die Tiere ahnten nicht, dass es genau das war, was die Löwinnen wollten.
    »Gut so, kommt nur her, ihr gestreiften Ungeheuer«, flüsterte Azima vor sich hin und fokussierte das ältere und fettere der beiden Jungtiere. »Heute Abend werdet ihr sehr viel Zeit damit verbringen, um ein kürzlich verstorbenes Familienmitglied zu trauern.«
    Azima spürte den Boden unter ihren Pfoten beben, als die Tiere nähersprangen. Die großen Berge, die weit hinter den ausgedehnten Ebenen in den blauen Himmel ragten, wurden für den Moment verdeckt von der gewaltigen Wolke aus feinem Sand, die aufgewirbelt wurde. Das nervöse Wiehern der Zebras hallte in den Ohren der Löwin.
    Sie atmete tief ein, dann sah sie es an der Zeit, ihr Versteck zu verlassen. Ihre krallenbesetzten Pfoten gruben sich für den Bruchteil eines Augenblicks in die sonnengewärmte Erde, bevor sie die Löwin in einem enormen Kraftakt vorankatapultierten.
    Verglichen mit dem getüpfelten Gepard, der mit seiner stolzen Höchstgeschwindigkeit von über einhundert Stundenkilometern den Rekordhalter unter den Wildkatzen darstellt, wirkt der Löwe mit seinen fünfzig bis sechzig beinahe langsam. Tatsächlich kann er es nicht einmal im direkten Duell mit einem galoppierenden Zebra aufnehmen. Doch wie alle Raubkatzen besitzt er einen entscheidenden Vorteil: er ist ein geborener Sprinter. Seine Höchstgeschwindigkeit hat der Löwe in den meisten Fällen schon erreicht, ehe das Beutetier überhaupt erst richtig warm geworden und damit für den Jäger verloren ist. Daher ist es für den Erfolg der Großkatze essentiell, sich vor Jagdbeginn unauffällig in eine günstige Position zu begeben. Auf diese Weise gelingt es ihr, Tieren, die eigentlich um einiges flinker unterwegs sind als sie selbst, die Stirn zu bieten.
    Azima war eine gute Läuferin. Wie der Wind schoss sie über das flache Grasland, wobei sie den Luftzug, der sie umgab, deutlich auf ihrem Fell spürte, während ihre Pfoten sich wieder und wieder vom Boden abstießen und die Löwin schneller und schneller vorantrieben.
    Die überraschten Zebras gerieten im Angesicht der neuen Bedrohung zunehmend in Panik, zerstreuten sich weiter und gaben das von Azima angepeilte Ziel Preis, das diese seit Beginn der Jagd nicht mehr aus den Augen gelassen hatte. Das aufgeschreckte Tier wieherte laut und machte auf der Stelle eine Kehrtwende, um in die entgegengesetzte Richtung zu entfliehen. Doch für den Moment war Azima schneller.
    Sie brachte einige letzte, gut koordinierte Sätze hinter sich, dann stieß sie sich mit aller Kraft, die sie aufzubringen vermochte, vom Boden ab und sprang auf das junge Zebra zu, das Maul samt den messerscharfen Fangzähnen weit aufgerissen. Ihre ausgefahrenen Krallen bohrten sich in den Rücken des Tieres und rissen die Haut unter dem dichten Fell auf. Von der schieren Wucht des Angriffs wurde das Beutetier zu Boden geschleudert. Mit ihm Azima, die den Halt verlor, sich überschlug und umgeben von einer Staubwolke auf dem unerwartet harten Boden aufprallte.
    Für einen Moment schien die ganze Welt verrückt zu spielen. Farben tanzten und flimmerten auf bizarre Art und Weise vor ihren Augen, bis sich die Löwin kopfschüttelnd wieder sammelte und aufsah. Der Puls hämmerte in ihren Ohren und sie zitterte am ganzen Leib vor Anspannung. Zwischen dem sich lichtenden Staub kam das Zebra zum Vorschein, auf seinem Rücken klafften frische, von ihren Krallen gerissene Wunden. Doch das zähe Tier war bereits dabei, sich nach dem Sturz wieder auf die Beine zu kämpfen. Die Jagd war noch nicht beendet.
    Azima musste nicht nachdenken, sie wusste, was nun zu tun war. Wieder auf allen vier Pfoten stehend, wenn auch mit einem leichten Schwanken, visierte sie die Kehle des gestreiften Beutetieres an. Gerade wollte sie sich ein weiteres Mal vom Boden abstoßen, um ihr Opfer endgültig zur Strecke zu bringen, da schoss ihr plötzlich ein empfindlicher Schmerz durch die linke Vorderpfote. Ehe sie von der Stelle kam, knickte die Löwin ein und verzog schmerzerfüllt das Gesicht.
    Derweil war das Zebra gestartet und bereits ein gutes Stück vorangekommen. Mit jedem weiteren verstreichenden Augenblick sank die Aussicht auf Jagdglück mehr und mehr. Doch Azimas scharfen Augen und ihrem Jägerverstand entging nicht, dass sie nicht die einzige war, für die der Sturz Folgen nach sich zog.
    Das Zebra humpelte.
    Die Löwin biss die Zähne zusammen und erhob sich erneut. Über ihre Wehwehchen konnte sie sich beschweren, sobald die Jagd abgeschlossen war, für den Moment galt es noch etwas zu erledigen.
    Vorsichtig trat sie mit der verletzten Pfote auf und spürte, dass der Schmerz längst nicht mehr so präsent war wie noch einige Herzschläge zuvor. Sie wagte etwas mehr Belastung, dann, im nächsten Augenblick, befand sie sich wieder im Rennen um den lockenden Preis. Das Zebra hatte sich einen guten Vorsprung erarbeitet, doch es kam nicht sonderlich schnell voran. Getrieben vom eisernen Willen zu überleben, hielt es auf den Rest der Herde zu, der sich inzwischen aus der Gefahrenzone abgesetzt hatte und somit für die Jägerinnen keine Rolle mehr spielte.
    Gerade war Azima wieder richtig in Fahrt gekommen, da schloss Kisiri zu ihr auf. Die dunkelfarbene Löwin hatte ein Stück abseits von Azima gelauert und war offenbar ungewöhnlich lange in ihrer Position verharrt.
    »Alles in Ordnung, Azima?«, rief sie keuchend und es war nicht schwierig, zu erkennen, dass sie Mühe hatte, mit ihrer Freundin Schritt zu halten. »Dem hast du es ja ganz schön gegeben!«
    »Aber genug hat er noch nicht«, antwortete Azima und legte noch einen Zahn zu. Was als schneller Zugriff geplant gewesen war, hatte sich zu einer Hetzjagd entwickelt, sehr zu Ungunsten der Jägerinnen.
    Aus den Augenwinkeln sah Azima, dass auch Tabasuri und Gona aus dem hohen Gras gespurtet kamen und sich ihnen näherten. Sie gehörten ebenfalls zu den Vollstreckern, deren Aufgabe darin bestand, möglichst viele der von den Treiberinnen vorangescheuchten Tiere zu Fall zu bringen.
    »Dranbleiben, Gona!«, rief Tabasuri, die ältere der beiden. »Azima hat den kleinen Gestreiften für uns ausgesucht.«
    Gona, deren Körper nicht annähernd so schlank und athletisch wirkte wie der ihrer Gefährtin, gab sichtlich ihr Bestes und brachte es nur mit Mühe fertig, etwas zwischen ihren sich überschlagenden Atemzügen zu erwidern.
    »Den da vorne? Der ist doch fast zu niedlich zum fressen.«
    Vier Löwinnen folgten dem verwundeten Zebra nun dicht an dicht. Doch den Räubern, die derart lange Läufe nicht gewohnt waren, ging nach und nach die Puste aus. Kisiri war die erste, die aufgab.
    »Tut mir Leid, Mädchen«, keuchte sie angestrengt. »Ich bin raus...«
    Azima nickte ihrer Freundin nur kurz zu. Den Atem, etwas zu erwidern, fand sie nicht. Gleich darauf verfiel Kisiri in einen ruhigeren Trab und blieb hinter ihren Gefährtinnen zurück, gefolgt von Gona, die ebenfalls am Ende ihrer Kräfte angelangt war.
    So blieben noch Tabasuri und Azima selbst. Kopf an Kopf fegten die beiden Löwinnen über die Ebene, doch so ausdauernd sie auch waren, sie konnten nicht mit dem jungen Zebra mithalten, das trotz seiner Verletzung seinen Vorsprung immer weiter ausbaute.
    Es hätte nicht viel gefehlt und auch Azima hätte die Jagd aufgegeben. Doch noch bevor sie diesen Gedanken in die Tat umsetzen konnte, tat das gestreifte Tier vor ihr plötzlich etwas höchst Unerwartetes.
    Anstatt weiter auf seine Familie zuzueilen, schlug es mit einem Mal einen scharfen Haken. Völlig überrascht bremste Azima mit aller Kraft ab, wobei sie nur knapp verhindern konnte, sich ein zweites Mal an diesem Tag zu überschlagen. Gerade wägte sie ab, zu springen, um das fliehende Wild mit allen Mitteln zu stoppen, da realisierte sie, dass sie den geeigneten Moment bereits verpasst hatte.
    Keuchend wurde die Löwin langsamer, bis ihre Pfoten nur noch dazu dienten, sie vor einem Zusammenbruch an Ort und Stelle zu bewahren. Tabasuri, neben ihr, erging es nicht besser.
    Die hungrigen Blicke der beiden erschöpften Löwinnen im Nacken setzte sich das Zebra immer weiter gen Norden ab. Doch weit kam es nicht.
    Wie aus dem Nichts kam Majadi hinter einem Dornengebüsch hervorgeschossen und hielt schnurstracks auf das Beutetier zu. Dieses war bereits am Ende seiner Kräfte, so dass es keine großartigen Anstalten mehr machte, die Richtung zu wechseln. Es wieherte laut, als sich lange, messerscharfe Krallen in seiner Haut verfingen und ein kräftiger Kiefer ihm die Luftröhre quetschte. Sich nur noch halbherzig wehrend, ging das Tier zu Boden, wo es noch einige Male mit einem der Hinterhufe ausschlug.
    Als die Wolke aus Staub und Sand sich lichtete, regte es sich nicht mehr.
    Majadi hatte gesiegt. Das Mahl war angerichtet.

  • Beute



    Azima packte fest zu und riss mit Hilfe ihrer Fangzähne ein saftiges Stück aus der frisch erlegten Beute. Das Fleisch erwies sich als ziemlich zäh, doch das störte die Löwin nicht, denn nach den Strapazen des Vormittags war sie zutiefst dankbar, dass sie nun überhaupt etwas Fressbares aufgetischt bekam.
    Kurz nach ihr waren auch Kisiri und Gona am Beuteplatz angelangt, gleich darauf Maisha und Chakula, welche nicht besonders schnell war, wenn es um die Jagd ging, dafür aber umso eifriger, wenn es nach Fressen roch. Kisiri hatte zunächst nicht glauben wollen, dass Majadi für den Fang gesorgt hatte. Erst nachdem Azima und Tabasuri ihr ausdrücklich versichert hatten, den sagenhaften Sprung, der ihnen die Mahlzeit beschert hatte, mit eigenen Augen gesehen zu haben, gab sie lächelnd nach und lobte die Älteste für ihre vorbildliche Ausdauer und ihre scharfen Krallen. Als letztes gesellte sich Mahaba zu den Löwinnen, die Majadi als Treiberin unterstützt hatte.
    Das erlegte Zebra war für ein Jungtier schon recht stattlich herangewachsen und so gab es keinen Grund, sich um das Fleisch zu streiten, es sei denn jemand bestand auf ganz bestimmte Leckerbissen in Form von besonders delikaten Körperpartien, die jedoch beinahe ausnahmslos recht schnell in Gonas und Chakulas Mäulern landeten. Die beiden Schwestern waren bekannt dafür, anstatt Mägen endlose, gierige Abgründe zu besitzen. So schmatzten sie genüsslich vor sich hin, während die anderen Löwinnen mehr oder minder manierlich schwiegen und das Fleisch mit ihren Zähnen zerkleinerten, ehe sie es Stück für Stück herunterschluckten.
    Es war Majadi, die das Schweigen schließlich brach.
    »Du hast dich wacker geschlagen, Azima«, lobte sie die junge Löwin, die ein wenig zaghaft von ihrem Mahl aufsah und bescheiden nickte. Azima musterte das Gesicht der Älteren, ihre ebenso weisen wie selbstbewussten Züge. Hier und da wies Majadis Fell graue, stellenweise sogar weiße Flecken auf, die ihr Alter untermalten. Doch sie zeigte niemals ein Anzeichen von Schwäche.
    Majadi gehörte zur ersten Generation, zu den ältesten der im Rudel lebenden Löwen, und sie selbst hatte wiederum die meisten Regenzeiten erlebt. Azima dagegen bildete zusammen mit Kisiri die dritte und jüngste Generation, zumindest unter den Weibchen.
    Unter Löwinnen existiert keine strukturierte Hierarchie, weder was das Alter, noch was die Stärke anbelangt, doch erweist es sich stets als klug, auf die Worte der Älteren zu hören, wenn man es zu einer fähigen und reifen Löwin bringen möchte. Dies war Azima bewusst.
    »Wie geht es deiner Pfote?«, wollte Majadi wissen. In ihrer Stimme schwang etwas mit, das an mütterliche Fürsorge erinnerte.
    »Halb so schlimm, bloß ein Kratzer.« Azima biss einen weiteren Brocken Fleisch ab.
    Die Älteste musste bemerkt haben, wie sie ihre Pfote auf dem Weg zur Beutestelle geschont hatte, sowie auch jetzt, beim Mahl.
    »Dann bin ich erleichtert«, erwiderte Majadi und ihr Blick glitt in die Ferne, obwohl Azima sich nicht vorstellen konnte, dass es dort irgendetwas Großartiges zu sehen gab. Offenbar verspürte die alte Löwin heute keinen all zu großen Appetit. Eine ganze Weile lang hielt sie inne, dann schien ihr plötzlich etwas einzufallen und sie wandte sich an alle anwesenden Löwinnen.
    »Hat eine von euch heute morgen Fuadi gesehen? Es wundert mich, dass sie nicht an der Jagd teilgenommen hat, wo sie doch bestens Bescheid wusste.«
    Azima schüttelte den Kopf, ebenso wie die anderen Löwinnen. Es war eigentlich nichts Ungewöhnliches, dass eine Löwin abseits der anderen Rudelmitglieder jagte. Es gab Tage, an denen sie allesamt alleine unterwegs waren.
    »Sie pfürd pfon ihre Grümpfe haben«, schmatzte Gona mit hoffnungslos überfülltem Maul.
    Tabasuri nickte zustimmend, wenn auch leicht angeekelt von Gonas Verhalten, während Chakula in diesem Moment offenbar irgendwo unterhalb des Brustkorbes der Beute eine besondere Delikatesse ausgemacht hatte, die ihren Fresstrieb zusätzlich beflügelte.
    »Ja. Ja, die wird sie wohl haben.« Majadi starrte weiter verträumt in die Gegend, als horchte sie auf eine fremde Stimme, die ihr von irgendwoher etwas zuflüsterte.
    »Aber hat sie nicht gestern noch selbst vorgeschlagen, mit dir die linke Flanke zu übernehmen, Kisiri?«
    Kisiri, die sich mit einem der Hinterbeine des Zebras ein Stück abseits der anderen niedergelassen hatte, sah auf, wobei sie, wie Azima zu ihrer Verwunderung feststellen musste, für einen flüchtigen Moment beinahe verschreckt wirkte.
    »Die linke Flanke? Mit mir? Oh ja... klar. Das hat sie gesagt, ich erinnere mich.«
    »Na, dann hat sie es sich wohl anders überlegt«, schloss Majadi ab und ein mildes Lächeln zierte ihre weisen Züge.
    Kisiri nickte stumm, führte die Schnauze wieder zu ihrer Beute und sah nur kurz noch einmal in Richtung der Ältesten, bevor sie zubiss.
    »Viel eher würd' mich interessieren, was mit deinen beiden Söhnen los ist, Majadi«, meinte Gona, die verzweifelt ihren Platz gegen die immer fresswütigere Chakula zu verteidigen versuchte. »Ich habe die beiden heute in aller Frühe vom Sonnenhügel aus losziehen sehen und es hatte den Anschein, als hätten sie eine längere Tour geplant.«
    »Ja, sie sind eben jung und neugierig. Für sie gibt es noch viel zu entdecken und zu lernen in diesem Land.«
    »Eigentlich ist das doch ungerecht«, meldete sich Tabasuri zu Wort. »Unsere Azima hier ist auch nicht älter als Jivu und doch muss sie schuften, während er sich vergnügen darf.«
    »Jivus Zeit wird noch früh genug kommen, mach dir keine Sorgen, schon bald wird er seine eigenen Wege gehen. Und was unsere tapfere Azima angeht...« Majadi nickte Azima anerkennend zu. »Sie hat uns heute ja deutlich gezeigt, was für eine hervorragende Jägerin sie ist und dass wir in Zukunft wohl kaum auf sie werden verzichten können.«
    Azima beschränkte sich auf ein bescheidenes Nicken, während sie so tat, als hätten ihre Zähne furchtbar schwer mit einem äußerst widerspenstigen Knochen zu schaffen. Tatsächlich aber war ihr dieses Lob von Majadis Seite mehr wert als jedes noch so saftige Stück Fleisch der Welt.
    Majadi hob den Blick und von einem Moment auf den anderen schwand ihr Lächeln. Als Azima, die die Alte beständig beobachtete, ebenfalls den Kopf hob und in dieselbe Richtung spähte, wurde ihr endlich bewusst, wonach Majadi die ganze Zeit Ausschau gehalten hatte.
    »Langt noch einmal kräftig zu, Mädchen«, sprach die Älteste ernst. »Das wird euer vorerst letzter Happen sein.«
    Bereits Schlimmes ahnend, sahen die Löwinnen der Reihe nach auf. Es war Gona, der dabei ein wehmütiges Seufzen entwich. »Ich hatte gehofft, wir wären schon satt, wenn er hier auftaucht. Aber es macht den Eindruck, als hätte er nur darauf gewartet, dass wir etwas zu Fall bringen.«
    »Seinen knurrenden Magen höre ich jedenfalls bis hierher«, erwiderte Tabasuri.
    Missmutig zogen sich die Löwinnen von der frischen Beute zurück und hielten sichere Distanz zu dem Neuankömmling. Einzig allein Chakula, die sich im wahrsten Sinne des Wortes in ihr Mahl vertieft hatte, musste erst von ihrer Schwester unter intensivem Eingerede an der Schwanzquaste weggezerrt werden. Die Löwin, deren Fell an Schnauze und Vorderpfoten eine auffallend rötliche Färbung angenommen hatte, trennte sich ganz offensichtlich nur schweren Herzens von ihren Leckerbissen. Doch schließlich blieb auch ihr nichts anderes übrig, als nachzugeben und mitanzusehen, wie große, prankenartige Pfoten die Überreste des Zebras packten, während ein kräftiger Kiefer sich seinen Anteil sicherte.


    Die Zweigeschlechtlichkeit, auch geschlechtlicher Dimorphimus genannt, findet eine starke Ausprägung unter Exemplaren der panthera leo, der Art der Löwen. Verglichen mit dem Weibchen ist das Löwenmännchen ein wahrer Kraftprotz. Er bringt stolze zwanzig bis fünfzig Prozent mehr Gewicht auf die Waage und ist in der Lage, mit einem einzigen Hieb seiner kräftigen Pranke einem ausgewachsenen Zebra das Genick zu brechen.
    Doch das Merkmal, das ihn am deutlichsten von seinen weiblichen Artgenossen unterscheidet, ist die dichte Mähne, die Kopf und Hals des Tieres bedeckt und wie eine natürliche Rüstung wirkt.
    Adhamas Mähne besaß im Gegensatz zu seinem recht hellen Fell eine dunkelbraune, an einigen Stellen auch rötliche Färbung. Sein Körper war selbst für den eines ausgewachsenen Löwen massiv und seine Gesichtszüge die Zeugen einer immerwährenden schlechten Laune, wie man sie besonders unter Individuen findet, die die Fähigkeit, Freude zu verspüren, vor langer Zeit aufgegeben haben. Wer aufmerksam hinsah, erkannte auch anhand der zum Teil trägen Bewegungen und der tiefschwarzen Markierungen rund um die Schnauze des Löwen, dass Adhama nicht mehr der Jüngste war. Zudem fanden sich verstreut über seinen Körper diverse Narben als Zeugen lange vergangener Kämpfe und Schlachten.
    Kalte Abscheu stieg in Azima auf, als sie mitansehen musste, wie der massige Rudelführer sich gemächlich über die Beute hermachte, jene Beute, die sie und die anderen Löwinnen so hart erkämpft hatten. Die elend lange, nervenzerreißende Lauer und die kraftraubende Hetzjagd, all das war heute lediglich einige klägliche Bisse wert gewesen. Aber so spielte das Leben, so verlangte es die Tradition.
    Azima war kurz davor, sich selbst vor Wut in den Schwanz zu beißen.
    Zunächst schenkte Adhama den Löwinnen, die nur wenige Schritte vor ihm aufgereiht saßen, keine sonderliche Beachtung. Erst als er offenbar den gröbsten Hunger getilgt hatte, sah er von seinem Mahl auf, entblößte die langen, blutüberzogenen Fangzähne und ließ ein grimmiges Knurren erklingen.
    »Was glotzt ihr denn so? Sucht euch gefälligst eure eigene Beute!«
    Dann, ohne etwas hinzuzufügen oder gar auf eine Antwort zu warten, machte der Rudelführer sich wieder ans Fressen.
    Azimas rechte Pfote bebte vor Anspannung. Doch sie behielt die Beherrschung. Sie sah hinüber zu Majadi, die ebenso finster dreinblickte. Sie war es, der die Beute wirklich zustand, immerhin hatte sie sie zu Fall gebracht.
    »Kommt, Mädchen. Schauen wir, was wir noch so finden.«
    Mit diesen erstaunlich selbstbewusst ausgesprochenen Worten wandte sich die Älteste vom Geschehen ab und entfernte sich gemächlichen Schrittes. Niedergeschlagen schlossen sich die übrigen Löwinnen ihr an. Lediglich Azima blieb an Ort und Stelle sitzen und rührte keine Pfote. Gebannt und angewidert zugleich starrte sie Adhama und das tote Zebra im Sand an. Plötzlich kam ihr das Fressen nicht mehr wie ein natürlicher Instinkt vor, sondern wie ein respektloses Verbrechen gegenüber Mutter Natur. Ein gieriger Schlund stopfte erbarmungslos wie ein ganzer Heuschreckenschwarm fremdes Getier in sich hinein. Ekelerregend.
    Der Löwe ließ sich Zeit, bevor er das nächste Mal aufsah. Doch als er feststellte, dass er immer noch nicht alleine war, lächelte er matt. Es war ein kaltes Lächeln, emotionslos, es passte nicht zu ihm und schien gewiss nichts Gutes zu verheißen.
    »Möchtest du deinen Freundinnen gar nicht folgen?«, fragte er und musterte die Löwin dabei sorgfältig.
    Azima bebte vor Wut. Sie hob den Kopf in dem verzweifelten Versuch, ihren Stolz und ihre Würde zu wahren.
    »Doch«, sprach sie laut und deutlich. »Natürlich... Anführer.«
    »Gut.« Adhamas finsteres Lächeln zeigte keine Veränderung. Sein breiter Körper hielt still.
    Mit all der Selbstbeherrschung, die sie aufbringen konnte, erhob sich Azima auf ihre vier Pfoten und wandte sich ab. Als sie im Gehen ein letztes Mal über ihre Schulter blickte, konnte sie noch mit ansehen, wie der stämmige Löwe sich in aller Ruhe wieder seinem Fraß widmete.

  • Der Fund am Bach



    Während die Sonne weiter den saphirblauen Himmel emporkletterte, suchte der überwiegende Teil der Savannenbewohner Zuflucht im Schatten der Bäume und Felsen. Wenn die gnadenlose Hitze vom Himmel herabbrennt, ist es nur ratsam, sich so kühl wie möglich zu halten, ganz besonders in der Trockenzeit, in der das Wasser schnell knapp werden kann.


    Doch an diesem heißen Vormittag streiften zwei Gestalten durch das goldgelbe Gras, die aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit einen interessanten Anblick boten. Der Größere von beiden, ein halbstarker Junglöwe mit altersbedingt schlanker Statur, dessen Haupt und Hals eine noch recht bescheidene wie widerspenstige, rot-braune Mähne zierte, schritt in gemächlichem Tempo voran und bahnte sich einen Weg an vereinzelten Sträuchern, Büschen und Felsen vorbei. Der andere Löwe, der ihm auf Schritt und Tritt folgte, war klein, so klein, dass lediglich sein Kopf und hin und wieder die Spitze seines dynamisch peitschenden Schwanzes aus dem Gras hervorlugten. Dem Kleinen schien die Hitze nichts anhaben zu können und so hüpfte und sprang er lebendig voran, ohne dabei jedoch seinen großen Bruder aus den Augen zu lassen.
    »Jivu?«, rief er dem größeren Löwen zu, während er versuchte, mit seinen Pfötchen dessen geruhsam hin und her pendelnde Schwanzquaste zu erhaschen, was ihm jedoch nicht auf Anhieb gelang. »Wo gehen wir eigentlich hin, Jivu?«
    Der ältere Löwe behielt sein stetes Tempo bei und sah über die Schulter zu seinem kleinen Bruder zurück. Sein Gesicht verriet, dass er nicht all zu begierig darauf war, diese Frage zu beantworten, er aber Verständnis zeigte für den kindlichen Übermut des Kleinen.
    »Das habe ich dir schon zwei Mal erklärt, Kituko.«
    »Ich möchte es aber nochmal hören!«, protestierte der Kleine.
    Jivu seufzte und wandte sich wieder dem Weg vor seinen Pfoten zu. Er folgte einem zwischen den Grashalmen kaum erkennbaren Trampelpfad, der ihn, so hoffte er, zu seinem Ziel bringen würde.
    »Wir sind auf dem Weg zum Bach.«
    »Und was wollen wir dort machen?«
    »Was denkst du? Etwas trinken natürlich.«
    »Aber warum machen wir das denn nicht an der Wasserstelle? Dann müssten wir auch nicht so weit laufen!«
    Kituko hatte es inzwischen aufgegeben, die launische Schwanzquaste seines Bruders zu fangen. Stattdessen unternahm er nun den Versuch, Jivus Spur zu folgen, indem er von einem Pfotenstapfen im Sand zum nächsten sprang, was ihm wesentlich mehr Erfolg bescherte.
    »Die Wasserstelle am Sonnenhügel ist beinahe ausgetrocknet«, erklärte Jivu geduldig. »Das liegt an der Sonne.« Er deutete mit einem leichten Nicken in den wolkenlosen Himmel, von wo aus die goldene Scheibe unermüdlich auf ihre Köpfe brannte. »Es hat einfach schon zu lange nicht mehr geregnet, weißt du. Aber am Jammerbach gibt es immer Wasser, denn das Wasser kommt direkt aus den Bergen zu uns geflossen.«
    Es war schwer zu sagen, ob diese Erklärung dem kleinen Energiebündel genügte oder ob sie ihn überhaupt noch interessierte. Zumal er sie nun schon zum dritten Mal an diesem Morgen gehört hatte. Doch es verging bloß ein Augenblick, da meldete sich Kituko schon wieder zu Wort.
    »Jivu?«
    »Ja?« Jivu war bemüht, ruhig zu bleiben. Wenn man einen kleinen Bruder hat, auf den man hin und wieder aufpassen muss, ist man so Einiges gewohnt und härtet irgendwann ab.
    »Jivu, warum haben Zebras so merkwürdige Streifen? Das sieht total komisch aus, ich habe neulich eines gesehen und das hatte die am ganzen Körper!« Kituko lachte auf und grinste bei der Vorstellung an das schräge Zebra. »Warum ist das so, Jivu?«
    »Oh, nun ja... du fragst vielleicht Sachen...« Jivu hob nachdenklich den Kopf, während er über eine Reihe kleinerer Steinbrocken hinwegstieg. »Ich habe mal gehört, das wäre wegen der Fliegen.«
    Die Steine, die Jivu ohne Weiteres überschritten hatte, gaben Kituko den Anreiz zu einer spaßigen Kletterpartie, die er gerne als Herausforderung annahm.
    »Wegen der Fliegen?«, lachte er ungläubig und erklomm den ersten Stein, von dem aus er mit einem gekonnten Sprung ohne Probleme den nächsten in der Reihe erreichte.
    »Ja, wegen der Fliegen. Aber nicht wegen irgendwelcher Fliegen, sondern wegen denen, die die gefährliche Schlafkrankheit übertragen.«
    »Schlafkrankheit... pff. Wenn es die wirklich gibt, hast du die auch... und Mama und Adhama und die anderen auch. Ihr liegt immer nur alle faul in der Gegend 'rum und tut so, als wäre das etwas ganz Tolles.« Kituko duckte sich, zielte, wobei er die Zunge zwischen die Zähne klemmte und sprang ein weiteres Mal. Doch der Stein, auf dem er landete, stellte sich als weniger Halt bietend heraus als der vorherige, besonders für die noch kleinen Krallen. So rutschte der junge Löwe ab und purzelte kopfüber ins Gras. Ohne dass Jivu etwas davon bemerkte, sprang Kituko wieder auf, schüttelte den rundlichen Kopf mit den großen, schwarzen Knopfaugen und hopste putzmunter seinem Bruder hinterher.
    »Jivuuuu?«
    »Ja...?« Jivu machte mittlerweile keinen großen Hehl mehr daraus, dass das ständige Gefrage ihn allmählich den letzten Nerv kostete.
    Doch Kituko ließ sich nicht beirren. Wenn man einen großen Bruder hat, der desöfteren dazu abkommandiert wird, auf einen Acht zu geben, ist man so Einiges gewohnt.
    »Wollen wir nicht Verstecken spielen, Jivu?«
    »Nein, jetzt nicht.«
    »Okay... hm... dann vielleicht...« Kituko ließ die Augen über das Gras gleiten, bis er plötzlich eine zündende Idee hatte. »Fangen?«
    Jivu schüttelte die struppige Mähne und blickte weiter stur geradeaus.
    »Kituko, wir haben fast den ganzen Vormittag Fangen gespielt. Und genau das ist der Grund, weshalb ich jetzt etwas zu Trinken brauche. Ich sterbe unter meinem viel zu dichten Fell.«
    »Na gut«, sagte Kituko und dachte weiter nach. »Dann lass uns ein Rennen machen! Wer zuerst am Bach ist, der gewinnt und der andere ist... äh... ist dann... ein Zebra, mit Schlafkrankheit!«
    »Na schön, meinetwegen. Also, bereit? Drei, zwei, eins... los!«
    Wie von einem Käfer gebissen, hüpfte Kituko an seinem Bruder vorbei und durch das hohe Gras davon, immer dem schmalen Pfad nach.
    Jivu seufzte, dankbar für einen kurzen Moment des Friedens und der Stille, der ihm nun gegönnt war. Weit konnte der Bach nicht mehr sein. Ja, als der Junglöwe im Gehen die Ohren spitzte, meinte er sogar bereits das ruhige, beständige Plätschern zu vernehmen.


    Woher der Jammerbach seinen Namen hatte, wusste niemand so genau. Möglicherweise rührte es daher, dass die Löwen ihn nur in Zeiten der Wasserknappheit aufsuchten, da er ein nicht zu unterschätzendes Stück entfernt lag vom Sonnenhügel, ihrer Heimat. Das war auch der Grund, weshalb man ihn lediglich als Bach kannte, denn nach starken Regenfällen, wie sie in der Regenzeit häufig auftraten, verwandelte sich der Jammerbach in einen ausgewachsenen Fluss.
    An diesem Morgen war davon allerdings nichts zu sehen.


    Kituko preschte zwischen den hohen Sträuchern hervor und tapste munter die Schritte des stellenweise mit kurzem, grünen Gras überzogenen Flussbettes hinunter, bis er eine seiner Pfoten ins Wasser strecken konnte. Es war angenehm kühl.
    Das letzte Stück über war Kituko einfach dem Plätschern des Wassers gefolgt, das ihn direkt hierher geführt hatte. Und wieder einmal hatte er seinen Bruder, das Schlafzebra, weit hinter sich gelassen.
    »Hey! Jivu!«, rief er, nachdem er wieder ein wenig zu Atem gekommen war. »Du bist so lahm wie eine alte Nilpferdkuh!«
    Kituko wusste nicht, ob Nilpferdkühe tatsächlich lahm waren, aber die Vorstellung von Jivu, wie er als dicke, runde Kugel durch die Gegend watschelte und schnaufend Luft einsog, gefiel ihm.
    Mit einem Grinsen breit über das ganze Gesicht atmete Kituko tief durch und sein kleines Herz pochte allmählich wieder in gewohnter Geschwindigkeit, die jedoch immer noch deutlich höher angesiedelt war als bei seinen älteren Artgenossen. Jetzt erst, nach seiner Spurteinlage, merkte er, wie durstig er war. Er setzte auch die zweite Pfote in das schleppend vor sich hinfließende kühle Nass und senkte seinen Kopf, um mit seiner Zunge in alter Katzenmanier zu schlabbern. Dass das Wasser eine dunkelbraune Färbung besaß, störte ihn dabei nicht. Ein Tier, das noch nie wirklich klares Wasser gesehen hat, kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass soetwas tatsächlich existiert.
    Nachdem der gröbste Durst gestillt war, hob Kituko den Kopf. Irgendwie roch es merkwürdig.
    Als er sich zur Seite umsah, fand er etwas vor, das ihn vor Schreck erstarren ließ. Augen und Maul weit aufgerissen, wagte er nicht, sich zu rühren oder gar zu schreien. Alles, was er sich für den Moment wünschte, war, dass seine Mutter nun bei ihm war, ihn mit warmen Pfoten umgab und ihm mit ihrer milden, sanftmütigen Stimme erklärte, dass das, was er sah, nur ein böser Traum war.
    »Kituko! Du meine Güte, du bist ja ein richtiger Sprinter geworden. Wenn du so weitermachst, werden dich die Gnus schon sehr bald zu fürchten lernen, wenn sie dich von Weitem-«
    Jivu hielt inne. Der Anblick hatte ihm die Sprache verschlagen.
    Auf ihrer Seite des Baches, zwischen einigen abgeknickten Sträuchern und Gräsern, lag der leblose Körper einer Löwin. Ihr dunkles Fell war blutbesudelt, was Scharen von Fliegen angelockt hatte, die surrend und summend über dem Körper kreisten. Ihre Pfoten hielt die Löwin unnatürlich angewinkelt und die Schnauze lag nur eines Haaresbreite vom Bach entfernt im Sand. Die Augen hatte sie im Moment ihres Todes offenbar weit aufgerissen und nun starrten sie leblos in die Leere, Zeichen eines letzten, verzweifelten Hilfegesuchs.
    Jivu war nicht in der Lage, den Blick abzuwenden von diesem erschütternden Bild. Jeder verstreichende Augenblick erschien ihm wie eine ganze Ewigkeit, in welcher verwirrende Fragen und andere, teils schauderhafte Gedanken seinen Kopf heimsuchten, ehe er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle bekam.
    Das erste, was er tat, als er aus dem hohen Gras hervortrat, war eine Pfote um den kleinen, am Wasser hockenden Kituko zu legen, der sich ohne zu zögern sofort an sie klammerte.
    »Hör zu, Kituko«, sprach Jivu und versuchte dabei jedes einzelne Wort möglichst sorgsam zu wählen. »Du läufst jetzt auf der Stelle zurück zum Sonnenhügel, immer dem Pfad nach, und sagst den Löwinnen, dass sie sofort und auf direktem Weg hierher kommen sollen. Verstanden?«
    Kituko nickte langsam, wobei ihm ein leises, klägliches Schluchzen entwich.
    »Du schaffst das«, fügte Jivu hinzu. »Ich bleibe hier und passe auf. Wer auch immer hierfür verantwortlich ist, er dürfte inzwischen weit weg sein.«
    Bei diesen Worten musste der ältere Löwe schlucken, denn seine Kehle fühlte sich mit einem Mal so trocken an wie nie zuvor in seinem Leben.
    »Nun lauf!«
    Es kostete Kituko sichtlich Überwindung, von der schützenden Pfote seines Bruders abzulassen, doch als er diese kleine Trennung überwunden und auch den Blick vom Ort des Schreckens abgewandt hatte, lief er davon, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen, und verschwand im hohen Gras. Einen Moment später verklang auch das Geraschel der Gräser und Sträucher.
    Jivu brauchte einen ganzen weiteren Atemzug, um sich zu überwinden, dann schritt er vorsichtig auf den Leichnam zu. Als er näher kam, raubte ihm der fürchterliche Gestank beinahe den Verstand. Nun war er froh, dass er heute noch nichts gegessen hatte, denn ihm wäre nicht eingefallen, wie er das Gegessene nun in sich hätte behalten sollen, so sehr wie sich sein Magen verkrampfte.
    Er wagte es, sich der toten Löwin bis auf einen Schritt zu nähern, dann erfasste ihn wieder ihr leerer Blick und er hielt den Atem an, kaum in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Er starrte sie einfach an... und sie starrte zurück. Doch ihre großen, bernsteinfarbenen Augen enthielten keine Spur von Leben. Fuadi war tot.
    »Kanntest du sie?«
    In einer wahren Explosion aus Adrenalin wirbelte Jivu herum, entblößte Zähne und Krallen und ging in eine geduckte Haltung über, aus der er blitzschnell in der Lage war, einen kraftvollen Angriff zu starten, würde es sich als nötig erweisen. Die Wahrheit aber war, dass seine Haltung ihm ebenfalls erlaubte, schon im nächsten Moment die Flucht zu ergreifen, denn seine rasende Angst befahl es ihm.
    »Wer bist du?«, fauchte Jivu und gab sich dabei alle Mühe, es gefährlich klingen zu lassen.
    Vor ihm saß ein Löwe, älter als Jivu selbst und mit dichterer Mähne versehen. Sein Fell erstrahlte unter den kräftigen Sonnenstrahlen in einem für einen Löwen höchst untypischen Weißton und sein präziser Blick schwankte zwischen wissend und unbeteiligt. Offenbar hielt der Fremde es nicht für nötig, sich auf einen bevorstehenden Angriff vorzubereiten. Er saß im dunklen Gras an der hohen Böschung, ganz als wäre er Zuschauer einer nur für ihn aufgeführten Schauspielvorstellung.
    »Mein Name ist Mavunde.« Die Stimme des Fremden klang klar, ungewöhnlich vertraut und doch geheimnisvoll zugleich.
    Für den Moment jedoch interessierte Jivu nur eines.
    »Warum? Warum hast du sie umgebracht?« Der junge Löwe zitterte am ganzen Leib und hatte Mühe, mit seinen Pfoten auf dem sandigen Boden Halt zu finden.
    »Wie kommst du darauf, dass ich es war?«
    Die offensichtliche Dreistigkeit des Fremden machte Jivu wütend und er zeigte seine Zähne. Eine simple, aber dennoch effektive Drohgebärde. Nur schien sie auf Mavunde keinerlei Wirkung zu haben.
    »Warum solltest du sonst hier sein?«
    »Oh, wer weiß.« Mavunde zeigte ein mattes Lächeln und seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als sein Blick Jivu förmlich durchbohrte. »Vielleicht habe ich dich gerade auf frischer Tat bei einem Mord ertappt...«
    »Was...?« Völlig verdutzt in Anbetracht dieser lächerlichen Beschuldigung ließ Jivu alle Drohungen für einen kurzen Moment fallen, nur um seine Wut anschließend neu aufflammen zu lassen. »Ich habe Fuadi nicht umgebracht! Sie war Teil unseres Rudels!«
    »Fuadi also, das war ihr Name...« Langsam erhob Mavunde sich und als er auf den leblosen Körper zuschritt, erweckte es eher den Eindruck, als schwebe er über den Sand hinweg, so graziös war jede seiner Bewegungen.
    Jivu wich vorsichtig von seiner Position zurück, weg vom Bach, den Fremden jedoch nicht aus den Augen lassend.
    »Es tut mir Leid um sie«, sprach Mavunde. »Sie war ein schönes Mädchen.«
    »Dann hättest du sie nicht umbringen sollen!«, keifte Jivu. Er wusste, dass er in einem direkten Kampf gegen den größeren und kräftigeren Mavunde den Kürzeren ziehen würde. Aber wenn er nur schnell genug reagierte, konnte er im Falle eines Angriffs vielleicht entkommen.
    »Hältst du immer noch so hartnäckig an deiner Ansicht fest?« Während er sprach, glitt Mavundes Pfote über das Fell der toten Fuadi, ganz als würde er sie streicheln. »Du bist wirklich stur. Aber das sind die meisten Lebewesen aus Fleisch und Blut. Sie akzeptieren einfach nicht, dass das, was ihnen ihr mickriger Verstand beim ersten Blick auf eine Szenerie zuflüstert, nicht zwangsläufig die bedingungslose Wahrheit darstellt. Aber lass es mich beweisen. Siehst du meine Pfote?«
    Mavunde streckte im Sitzen seine Vorderpfote aus, die Krallen lugten zwischen dem weißen Fell hervor. Jivu betrachtete die Pfote und zog die Möglichkeit einer Falle oder Ablenkung in Erwägung.
    »Ja, ich sehe sie. Was ist mit ihr?«
    »Erkennst du es denn nicht?«
    »Sie ist gemacht zum Töten, das erkenne ich.«
    »Ja, das mag sein«, gab Mavunde zu. »Aber sie ist sauber, ebenso wie meine anderen Pfoten, meine Schnauze und meine Zähne. Siehst du?«
    Mavunde öffnete sein Maul leicht und seine makellos weißen Zähne kamen zum Vorschein.
    »Kein Blut«, betonte er. »Und wenn du dir unsere arme Löwin ansiehst, die so grässlich misshandelt wurde vom Schicksal, wirst du erkennen, dass sie eine klaffende Wunde am Kopf hat, sowie mehrere Bissspuren am Hals. Der Mörder hat sie erst mit seiner Pranke kampfunfähig geschlagen...« Mavunde ließ seine Pfote zur Demonstration durch die Luft gleiten, wie bei einem starken Prankenhieb, nur langsamer. »...und anschließend hat er sie mit seinem Kiefer erwürgt. Kein angenehmer Tod, aber es gibt weitaus Schlimmeres.«
    Der weiße Löwe sah hinab auf das Opfer der beschriebenen Gewalttat und Jivu gewann den Eindruck, Mitleid in seinen Zügen zu erkennen. Trotzdem hielt er es für angebracht, an seinem Misstrauen festzuhalten.
    »Du könntest dir Schnauze und Pfoten im Bach gewaschen haben.«
    Mavunde schien entzückt. »Ja, sehr richtig, das könnte ich getan haben. Aber denk weiter nach, betrachte den sandigen Boden. Müsste der Sand nicht an meinen nassen Pfoten kleben?«
    »Nicht, wenn die Tat schon eine ganze Weile her ist.«
    Mavunde nickte zustimmend. »Du sagst es. Dieser Mord liegt wahrhaftig schon einige Stunden zurück. Wenn mich meine Intuition nicht täuscht, wurde er irgendwann heute Nacht begangen. Was mich zu der Frage kommen lässt: Wieso, wenn ich der Mörder wäre, sollte ich nun zum Ort der Tat zurückkehren?«
    Jivu nahm sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken. Dieses Ratespiel wurde ihm langsam aber sicher suspekt. Doch je mehr er darüber nachsann, desto unwahrscheinlicher erschien es ihm, dass Mavunde tatsächlich für Fuadis Tod verantwortlich war.
    »Vielleicht um die Spuren zu verwischen?«, mutmaßte der Junglöwe.
    »Spuren ist ein gutes Stichwort!« Mit einem Nicken deutete Mavunde hinter die am Boden liegende Löwin. »Siehst du, wie das Gras umgeknickt und plattgedrückt wurde? Diese Spur lässt sich einige hundert Schritte nach Westen verfolgen. Was schließen wir daraus?«
    »Der Mord wurde nicht hier verübt. Vermutlich wurde Fuadi erst nach der Tat hierher geschleppt.«
    »Präzise. Du bist wirklich gar nicht so dumm, wie man denken könnte. Aber der wichtigste Hinweis ist dir bislang entgangen. Sieh dir ihre Schnauze an.«
    Er deutete mit der Pfote hinab, wo Fuadis Kopf im Sand lag, als hätte sie sich in ihrer größten Not nach einem Schluck Wasser gesehnt. Jivu musste sich zusammenreißen, um dem Blick ihrer glasigen Augen zu widerstehen. Dann betrachtete er Schnauze und Maul der Toten... und hielt inne.
    Als würde sie ihren letzten Atem aushauchen, stand das Maul der Löwin leicht geöffnet, weit genug, um erkennen zu lassen, dass hier etwas nicht so war, wie es hätte sein sollen.
    »Die Zähne!«
    Irgendjemand hatte Fuadis vier lange Eckzähne herausgetrennt. Aber wer nur interessierte sich für die Fangzähne einer toten Löwin? Und warum?
    »Genau das meine ich.« Mavundes Miene verfinsterte sich. Dann, plötzlich, spitzte er die Ohren und sah auf.
    »Es ist nun an der Zeit für mich, zu gehen«, sprach er in gelassenem Tonfall.
    Von Jivus Seite erntete er damit einen verwirrten Blick. War das sein Ernst?
    »Ich bitte dich noch um eines. Verrate den anderen Löwen nichts von meiner Existenz, erwähne mich mit keinem Wort. Sie sind nicht alle so gewieft wie du und der ein oder andere unter ihnen würde sich sicher nicht von der Überzeugung abbringen lassen, mich als eiskalten Mörder zu sehen. Habe ich dein Wort, Jivu?«
    Jivu zögerte. Konnte er diesem Fremden trauen? Trotz aller Bedenken nickte er. Dabei entging ihm völlig, dass Mavunde seinen Namen benutzt hatte, ohne dass Jivu ihm diesen zuvor verraten hatte.
    »Ich danke dir.« Der weiße Löwe nickte anerkennend. »Wir werden uns schon bald wiedersehen.«
    Plötzlich vernahm Jivu direkt hinter sich zahlreiche Laute von Schritten und das Rascheln von Sträuchern, die beiseite geschoben wurden. Er wandte sich um und lauschte intensiver. Die Schritte rückten näher und ihre Verursacher gaben sich keine Mühe, sie zu verbergen.
    Als Jivu sich im nächsten Augenblick wieder dem Bach und der toten Fuadi zuwandte, war Mavunde verschwunden. Nichts zeugte davon, dass der Löwe soeben noch hier, im Sand gesessen hatte.

  • Bittere Tränen



    »Jivu?! Jivu, bist du unversehrt?«
    Majadi war die erste, die den Bach erreichte, dicht gefolgt von Azima und Maisha. Die übrigen Löwinnen fanden sich der Reihe nach ein, offenbar hatte Kituko das gesamte Rudel in der Nähe gefunden. Die Älteste eilte herüber zu Jivu und setzte sich neben ihn, die Schnauze zum Trost an seinem Hals reibend. Eine Geste, die dem Junglöwen Geborgenheit vermittelte.
    »Fuadi!« Tabasuri schrie auf und brach augenblicklich in bittere Tränen aus, als sie ihre Tochter tot auf dem sandigen Flussbett vorfand. Schnellen Schrittes lief sie hinüber zu der Toten, ließ sich auf deren verschmutzten Körper fallen und weinte und klagte und weinte wieder. Mit den Pfoten strich sie durch das dunkle Fell, während sie ihre Schnauze gegen die Flanke der Toten presste. Den anderen Löwinnen blieb kaum mehr übrig, als ihr bestürzt zuzusehen, wie gelähmt von Trauer und Fassungslosigkeit.
    Es verstrich ein quälend langer Augenblick, ehe Majadi schließlich das Wort ergriff.
    »Was ist geschehen?«
    Noch bevor Jivu etwas erwidern konnte, gesellte sich ein weiterer Löwe zu der Gruppe. Es war Adhama, der Rudelführer.
    »Wilderer«, knurrte er. »Sie haben lange gelauert, doch dies nun scheint ihr abscheuliches Werk zu sein.«
    »Diese Bestien«, zischte Maisha mit bebender Stimme. »Warum tun sie soetwas?«
    »Weil sie der festen Meinung sind, dass das Land ihnen gehört und nicht uns.« Adhama schritt hinunter zum Bach, wo das Wasser über eine Ansammlung glatt gewaschener Steine plätscherte, und machte Anstalten, daraus zu trinken. »Aber wir werden es ihnen ganz sicher nicht überlassen, zumindest nicht kampflos.«
    Mit seiner kräftigen Zunge beförderte der massige Löwe das Wasser aus dem Bach in sein offenes Maul. Es erstaunte Jivu, wie gelassen er dabei wirkte, ganz als habe der Anblick eines toten Rudelmitglieds keinerlei Wirkung mehr auf sein raues, abgehärtetes Gemüt.
    »Wir wissen nicht, ob die Wilderer für Fuadis Tod verantwortlich sind«, wandte Majadi ein. Zuvor noch von einem Schleier aus Trauer umhüllt, wirkte sie nun gefasster, so wie man sie kannte. »Ich erkenne nichts, was eindeutig dafür spricht. Wir könnten es mit allem zu tun haben. Ein fremdes Löwenmännchen oder eine andere Raubkatze, möglicherweise auch Hyänen.«
    »Unmöglich!«, widersprach ihr Maisha. »Sieh-« Sie zögerte kurz, als ihr Blick erneut auf ihre tote Freundin fiel. »Sieh dir nur diese Wunden an Hals und Kopf an. Keine Hyäne der Welt besitzt so viel Kraft. Und Fuadi war eine starke Kämpferin.«
    Majadi nickte einsichtig. »Ja, du hast recht, das hatte ich nicht bedacht. Hinzu kommen die Spuren im Gras, seht ihr? Dieser Mörder hat Fuadis Körper bis hierher geschleift, warum auch immer.« Einen kurzen Moment lang betrachtete die alte Löwin betroffen den Mittagshimmel, ganz als rebellierten ihre Gedanken dagegen, sich die geschehene Tat in all ihrer Grausamkeit auszumalen. »Vielleicht um sie später zu fressen. Wir sollten Wächter aufstellen, zwei, die hier im Gras ausharren und aufpassen, sowie alles Auffällige beobachten und melden. Außerdem wäre es gut, wenn jemand diese Spur zurückverfolgt. Azima?«
    Azima trat vor. Ihre graziöse Anmut spiegelte sich in jeder ihrer Bewegungen wieder.
    »Ja, Majadi?«
    »Folge du der Spur im Gras und halte gut Ausschau, ob du etwas findest, das uns weiterhelfen könnte, einen Hinweis. Wenn ich es recht bedenke, vielleicht solltest du lieber nicht alleine gehen.«
    Majadis Blick glitt über die anwesenden Löwen und blieb zuletzt bei Jivu hängen.
    »Jivu, würde es dir etwas ausmachen, Azima zu begleiten?«
    »Nein, natürlich nicht«, entgegnete der Junglöwe und erhob sich, wenn auch ein wenig zögerlich.
    »Danke«, sprach Majadi. »Gona, Chakula, ihr übernehmt die erste Wache. Haltet euch verdeckt und seid auf der Hut.«
    Die beiden Löwinnen nickten.
    »Gut.« Die Älteste atmete tief durch. Es war kaum zu übersehen, dass auch ihr Schock und Trauer tief in den Gliedern saßen. »Der Rest von euch kehrt am besten gemeinsam mit mir zum Sonnenhügel zurück. Wir beraten später über weitere Schritte. Außerdem werde ich noch einige verabschiedende Worte für unsere arme Freundin sprechen, die hat sie verdient, darin besteht kein Zweifel.«
    »Augenblick!«
    Die Löwinnen hatten sich bereits in Bewegung gesetzt, als Adhamas donnernde Stimme sie verharren ließ. Der Rudelführer hatte mittlerweile offenbar zu Genüge getrunken.
    »Soweit ich mich erinnere, gebe ich hier immer noch die Befehle!«
    »Oh, das waren keine Befehle, mein Guter«, sprach Majadi gelassen. »Lediglich... Vorschläge, wie wir am sichersten Vorgehen sollten.«
    Der massige Löwe ließ ein widerwilliges Brummen ertönen.
    »Na schön, wenn das so ist: Tut, was die Älteste gesagt hat. Und zwar unverzüglich!«
    Die Löwinnen gehorchten und machten sich auf den Weg, jedoch nicht ohne sich zuvor noch von ihrer toten Freundin zu verabschieden und sei es nur mittels eines mitleidigen Blickes. Majadi kümmerte sich derweil um Tabasuri, die noch immer am Boden zerstört war, die Augen unter Tränen gerötet. Die Älteste redete ihr gutmütig und fürsorglich zu und führte sie voran, nachdem sie sie dazu gebracht hatte, sich zu erheben. Dann schnappte sie sich Kituko mit der Schnauze, so wie Löwinnen es mit ihren Jungen zu tun pflegen, und folgte den anderen.
    Gona und Chakula wählten einen Platz im hohen Gras, in Sichtweite des Tatorts, wo sie sich auf die Lauer legten. Schließlich blieben nur noch Jivu und Azima zurück.
    Azima ließ ihren Blick seitlich auf den Junglöwen fallen, musterte ihn skeptisch und seufzte resigniert.
    »Na dann mal los, Kleiner«, sprach sie in einer für eine Löwin typisch selbstbewussten Art, die Jivu in diesem Augenblick überhaupt nicht gefiel.
    »Kleiner?«, lachte er schüchtern. »Wenn mich nicht alles täuscht, bin ich mindestens einen halben Kopf größer als du.«
    Azima hatte sich bereits der Spur im Gras zugewandt, den Kopf tief gesenkt, wie auf der Pirsch, und einen Großteil des Gewichtes auf die Vorderpfoten verlagert.
    »Ich habe nicht von körperlicher Größe gesprochen.«
    Ohne Jivu eines weiteren Blickes zu würdigen, schritt die Löwin voran, immer dem Pfad nach, der sich zwischen den Halmen gebildet hatte.
    Deprimiert ließ Jivu den Kopf sinken. Er kannte Azima und wusste, dass sie nicht die Sorte Löwin war, die all zu rasch Schwäche zeigte, ganz besonders nicht gegenüber einem halbstarken Männchen wie er es war. Majadi war nicht bewusst gewesen, was sie ihnen beiden eingebrockt hatte, als sie Jivu als Azimas Begleiter ausgewählt hatte. Doch nun blieb wohl kein Ausweg.
    Und da war noch etwas anderes...
    Jivu konnte es sich nur schwerlich erklären, doch er spürte, dass ihn irgendetwas dazu trieb, nach jedem noch so unscheinbaren Detail zu lechzen, das mit Fuadis Tod in Zusammenhang stand. Er hatte den Drang, dieser Spur zu folgen, um zu sehen, was sich aufspüren ließ. Vielleicht war das seine Art, mit dem Tod einer Nahestehenden klarzukommen. Der Schock saß noch immer tief, gleich wenn er Fuadi längst nicht so gut gekannt hatte wie andere im Rudel. Er wusste, dass Majadi weise und darauf bedacht war, für die Lebenden zu sorgen, anstatt den Toten nachzutrauern. Trotzdem hätte er sich gewünscht, sie hätte gleich hier und jetzt vor dem Rudel noch einige Worte des Trosts gesprochen, nicht bloß zu Tabasuri. Es war nicht das erste Mal, dass Jivu den Tod eines Rudelmitglieds miterlebte, aber das bedeutete nicht, dass er einen derartigen Trauerfall einfach so wegsteckte.
    Bevor der Junglöwe sich Azima anschloss, fiel sein Blick ein letztes Mal auf die tote Löwin am Bach. Wer nur sehr flüchtig einen Blick auf sie warf, der hätte meinen können, dass sie bloß schliefe. Doch schon sehr bald würden die Geier sich auf ihre Überreste stürzen und dann würde nichts mehr von ihr übrig bleiben, nur die Erinnerung.


    Unter der brütenden Hitze der Savannensonne folgten die beiden Junglöwen der Fährte, die sie durch das halbhohe goldgelbe Gras führte, das in der Windstille dieses Mittags keinerlei Regung zeigte. Vögel zwitscherten aufgeregt und zwei junge Elenantilopen, die es sich abseits ihrer Herde im Schatten einer breitwüchsigen Akazie bequem gemacht hatten, suchten schleunigste das Weite, als sie die beiden Großkatzen witterten.
    Azima schritt beständig voran und Jivu hielt es für angebracht, ihr in gebührendem Respektabstand zu folgen. Dabei gab er sich alle Mühe, seinen Blick nicht all zu oft über ihr Hinterteil gleiten zu lassen. Stattdessen hielt er sorgsam nach etwas Ausschau, das sich als wertvoller Hinweis entpuppen könnte.
    Zwischen den umgeknickten oder zertrampelten Gräsern fand er den ein oder anderen Pfotenabdruck, der aber genauso gut von ihm selbst hätte stammen können. Es war knifflig, zu sagen, ob die Abdrücke tatsächlich mit dem Mord in Verbindung standen oder ob sie hier schon seit dem letzten Regenfall, durch das Gras vom Wind geschützt, verborgen lagen. Kein sonderlich hilfreicher Hinweis also.
    Unterwegs entdeckte Azima zudem noch Ansätze einer Blutspur. Aber es gab keinen auffälligen Geruch, nichts was auf die Identität des Killers hingewiesen hätte.
    Schließlich, nach einer zurückgelegten Strecke von einigen Dutzend etwas größeren Katzensprüngen, die Jivu in der prallen Hitze wie eine halbe Weltreise erschien, endete die Spur, das Gras war von hier an unberührt. Der Boden an dieser Stelle war härter und steiniger und so gab es keine Hinweise darauf, woher der mutmaßliche Mörder gekommen sein mochte.
    Nachdem Azima die nähere Umgebung einer sorgsamen Geruchsprüfung unterzogen hatte, setzte sie sich und sah sich um. Jivu beobachtete sie dabei, was ihr deutlich zu missfallen schien.
    »Das war's dann wohl. Hier finden wir nichts mehr«, meinte sie ein wenig genervt.
    Jivu, der noch immer seinen Abstand hielt, suchte verzweifelt nach irgendetwas um sich herum, das für seine Augen interessanter erscheinen würde als die junge Löwin.
    »Nicht sehr erfolgreich, unsere Suche, hm?«
    »Nein, ganz und gar nicht.« Azima erhob sich und schlug eine neue Richtung ein. »Na los, zurück zum Sonnenhügel. Einer von uns sollte Bericht erstatten.«
    »Willst du wirklich schon aufgeben?«
    Mit einem Fauchen riss Azima den Kopf herum und zeigte ihr bedrohliches Gebiss, das eine wahrlich einschüchternde Wirkung besaß, wie Jivu zugeben musste. Doch er gab sich Mühe, nicht zurückzuweichen.
    »Ich gebe nicht auf, hörst du!«, zischte Azima, ganz offensichtlich stark gereizt. »Ich bin eine Löwin, ich gebe niemals auf! Es hat nur keinen Sinn hier weiter im Dreck rumzuwühlen, man findet ja doch nichts. Aber ich gebe nicht auf! Soetwas lasse ich mir von einem stinkenden Mähnenträger wie dir nicht sagen, verstanden?!«
    Nicht ganz sicher, wie er am besten reagieren sollte, nickte Jivu lediglich beipflichtend. Selbst für eine Löwin erwies sich Azima als ausgesprochen temperamentvoll oder aber Fuadis Tod hatte ihr sehr stark zugesetzt. Einen letzten, scharfen Blick warf sie noch auf den Junglöwen, dann befanden sich ihre Pfoten wieder in Bewegung. In der Ferne war inmitten des flimmernden Dunstes der Savanne die Spitze des Sonnenhügels auszumachen.
    Jivu hielt es für sinnvoll, den Sicherheitsabstand zu Azima um ein gutes Stück zu vergrößern, indem er der Löwin etwas Vorsprung gewährte. Da er nicht wusste, was er ansonsten tun sollte, ließ er den Blick über die Gräser und Büsche streifen und dachte nach.
    Das Bild der toten Fuadi wollte einfach nicht aus seinem Kopf. Und dann die Begegnung mit Mavunde. Was hatte das nur zu bedeuten? Etwas Seltsames ging vor sich, das spürte Jivu und es bereitete ihm Sorgen.
    Da, plötzlich, blieb sein Blick an einem der umstehenden Bäume hängen. Zwischen den zierlichen Ästen, die sich allen Himmelsrichtungen entgegenreckten und das Sonnenlicht somit fächerartig auffingen, saß ein Affe. Ein relativ schmächtiges Exemplar, dessen Körper von einem dichten, beigen Fell überzogen war. Er hockte auf einem der robuster wirkenden Äste der Schirmakazie und sein langer, spitzer Schwanz wippte wie ein Metronom hin und her.
    Jivu hätte den Affen ignoriert, so wie er es mit jedem anderen Brüllaffen dieser Größe getan hätte, da diese Biester, flink und behände wie sie waren, für gewöhnlich nicht als Beute in Frage kamen.
    Doch der Blick des kleinen Tieres ließ ihn innehalten. Schwarze, kugelrunde Augen starrten den jungen Löwen an, ohne auch nur ein einziges Mal zu zucken. Sie weckten in Jivu das beunruhigende Gefühl, dass er bei jedem Atemzug, den er tat, bei jedem Herzschlag und jedem Schritt durch die Savanne beobachtet wurde. Ja, als ob er niemals alleine war, bei allem was er tat.
    Rasch sah sich der Löwe um. Niemand war zu sehen, einzig allein eine Giraffe, deren langer Hals Gräser und Sträucher überragte, während sie irgendwo in der Ferne ihrem Mittagsmahl nachging.
    Ohne wirklich zu wissen warum, zog Jivu die Lefzen hoch und warf dem Affen sein grimmigstes Knurren entgegen. Doch das Tier blieb unbeeindruckt. Noch immer pendelte der weiße Schwanz friedlich vor sich hin. Jivu fauchte bedrohlich, dann holte er Luft und presste tief aus seiner Lunge sein bestes Gebrüll hervor. Aber ganz gleich, was er auch tat, der Affe rührte sich nicht vom Fleck und ließ die Augen nicht von ihm ab.
    Schließlich gab Jivu auf.
    »Wenn ich etwas besser im Bäumeklettern wäre, würdest du dein selbstgefälliges Gegaffe sehr bald sein lassen, du mickriges Stück Pelz.«
    Mit einem letzten, verachtungsvollen Blick machte Jivu kehrt und trottete in Richtung Sonnenhügel davon. Zu gerne hätte er irgendetwas zwischen seine Zähne genommen, einfach nur um sich zu vergewissern, dass er selbst, als Löwe, noch immer an der Spitze der Nahrungskette stand... und niemand anderes.

  • Am Sonnenhügel



    In Gedanken vertieft trottete Azima den Pfad entlang, der sie zurück zum Sonnenhügel führte, der Heimat des Löwenrudels. Im flachen Savannenland war er als größtes natürliches Gebilde aus Fels und Stein bereits von weither auszumachen und strahlte Stolz und Erhabenheit aus.
    Kopjen sind typische Savannengebilde, sie erheben sich oft viele Meter weit über das umliegende Flachland und bilden somit eine Art Hochplateau, ein idealer Ausguck für jeden, dem es gelingt, einen Weg auf die flache Oberseite zu finden. Der Sonnenhügel besaß dazu einen schmalen Aufgang an der Westseite, wo sich über die Zeit hinweg Teile des Fels abgespalten und eine Struktur zum Vorschein gebracht hatten, die mit viel Fantasie an eine Treppe erinnerte.
    Es gehörte kein großes Können dazu, diesen Pfad zu erklimmen und so sann Azima über allerlei Dinge nach, während ihre Pfoten routiniert Halt fanden auf dem rötlichen Gestein und die Löwin mittels großer Schritte nach oben beförderten. Allen voran dominierte Fuadis Tod ihre Gedanken. Sie hatte die Löwin aus der zweiten Generation gut gekannt und hatte ihr viele hilfreiche Ratschläge, was die Jagd oder das Zusammenleben anging, zu verdanken. Sie war eine Freundin gewesen und eine stete Verbündete im Kampf um das Überleben in der Savanne. Diesen Kampf hatte sie nun nicht länger für sich entscheiden können. Ihr Tod war so plötzlich eingetreten, dass Azima Mühe hatte, ihn überhaupt zu akzeptieren. Warum musste eine so gutmütige und schlaue Löwin wie Fuadi sterben, während Bastarde wie Adhama weiterleben durften? Wenn Azima auf dieser Welt irgendetwas gelernt hatte, dann, dass das Leben mit niemandem fair umsprang.
    Mit spielerischer Leichtigkeit überwand die junge Löwin die letzten Steinstufen des Aufgangs und fand sich auf dem Plateau des Sonnenhügels wieder. Eine mehr oder weniger ebene Fläche, die genug Platz für einige Dutzend ausgestreckte Löwenkörper geboten hätte. Auf der Ostseite erstreckte sich der Fels weiter gen Himmel und endete in einer abgeflachten Spitze, die wie ein kleines Abbild der dahinter, in der Ferne liegenden großen Berge wirkte. Der massive Felsbrocken nahm etwa ein Drittel der Fläche auf der Kopje ein und war aus einem unbekannten Grund zum größten Teil hohl. Eine Luxushöhle für den Rudelführer, viele Schritt hoch über der Savanne.
    Ein leises, wenig auffälliges Knurren entwich Azima, als sie in Richtung des Höhleneingangs sah, wo Schatten und Fels den meisten neugierigen Blicken Zutritt verwehrten.
    Die Löwin hatte ihren Aufstieg keine zwei Augenblicke hinter sich gebracht, da gesellte sich auch schon Majadi zu ihr. Die Älteste hatte offenbar in der Nähe des Aufgangs, abseits der anderen Löwinnen, auf sie gewartet. Nun begrüßte sie Azima mit einem behutsamen Streicheln, Schnauze an Schnauze.
    »Hast du etwas Lohnenswertes finden können, meine Liebe?«, fragte sie in ihrer milden und weisen Art.
    Azima antwortete gelassen: »Nein, nichts was wirklich weiterhilft. Einige Spuren im Sand, ein paar vertrocknete Tropfen Blut, aber nichts, was uns über die genaue Identität des Mörders Aufschluss geben könnte.«
    Majadi nickte verständnisvoll und wandte den Blick ab, bis ihr plötzlich etwas aufzufallen schien.
    »Wo hast du denn Jivu gelassen?«, fragte sie.
    Azima gab sich alle Mühe, ihre vorlaute Zunge im Zaum zu halten. »Der... ähm... kommt gleich nach.«
    »Verstehe. Vielen Dank für deine Hilfe.«
    »Selbstverständlich, Majadi.«
    Langsamen Schrittes zog sich die Älteste zu den anderen Löwinnen der ersten Generation zurück, die unweit des Höhleneinganges Platz genommen hatten, dort, wo es noch einigermaßen schattig war. Die Höhle zu betreten, war nur auf Anweisung des Rudelführers gestattet und ein Missachten dieser Regel würde schmerzhafte Konsequenzen nach sich ziehen.
    Azima schritt über den von der Sonne gewärmten Fels hinweg. Nachdem sie sich rasch umsah, fand sie Kisiri am Nordrand des Plateaus. Dort lag die junge Löwin alleine, die Pfoten eingezogen, an einen in der Mittagszeit nicht sonderlich viel Schatten spendenden Steinbrocken gelehnt.
    Kisiri und Azima waren die jüngsten Löwinnen des Rudels und hatten es seit jeher vorgezogen, einen gewissen Teil des Tages zu zweit zu verbringen. Die Löwin mit dem dunklen Fell war eine gute Gesprächspartnerin, sofern man nicht auf all zu viele ausführliche Antworten aus war. Denn in den meisten Fällen blieb Kisiri wortkarg, übernahm die Rolle der aufmerksamen Zuhörerin, in der sie es über all die Zeit hinweg zur Perfektion gebracht hatte.
    Die trübe Stimmung, die durch Fuadis Tod ausgelöst worden war, hatte sich wie eine schwere Decke über den Sonnenhügel und das Rudel gelegt. Die Trauer über den Verlust war allgegenwärtig und kaum jemand wagte, etwas zu sagen. Aber am meisten von allen hatte sich Kisiri verändert. Es war, als hätte der Wind ihr die zwar stille, aber ansonsten stets vorhandene Lebensfreude aus dem Gemüt geblasen und sie kläglich und kümmerlich zurückgelassen. Sie schreckte hoch, als Azima näher trat und sah ihre Freundin aus glasigen, beinahe angsterfüllten Augen an.
    Azima legte sich zu Kisiri, so dass sich ihre Hinterbeine berührten, und mit dem Rücken zu den übrigen Löwinnen, auf der anderen Seite der Kopje. Dabei war ihr fast, als spürte sie wie ihre Freundin zitterte.
    »Ki, was ist nur los mit dir? Du wirkst ja völlig verstört.«
    Kisiri zögerte, ihre großen Augen spähten in alle Himmelsrichtungen, ehe sie mit halblauter, kläglicher Stimme antwortete.
    »Es ist nichts. Nur... Fuadis Tod nimmt mich sehr mit. Ich weiß, das klingt albern und kindisch.«
    »Nein, das tut es nicht.« Entspannt hob Azima ihre noch von der Jagd schmerzende Pfote und begann sie mit ihrer Zunge zu bearbeiten. Der Aufstieg war problemlos verlaufen, trotzdem bereitete es der Löwin Sorgen, sich mit einer schmerzenden Pfote herumzuschlagen. In der Wildnis waren vier tüchtige Pfoten eine wichtige Voraussetzung für das Überleben.
    »Wir haben in Fuadi eine gute und weise Freundin verloren«, sprach sie in ruhigem Tonfall.
    »Da hast du recht.« Kisiri wandte den Blick ab und schien sich nun für die großartige Aussicht, die der Sonnenhügel bot, zu interessieren. Von hier oben hatte man einen hervorragenden Überblick über das umliegende Land, man befand sich sogar über den Blätterdächern der meisten Bäume. Im Süden und Osten ragten in weiter Ferne die großen Berge in den blauen Himmel empor. Im Dunst des Mittags erschienen sie lediglich als Silhouetten auf einem blauen Hintergrund, aber dennoch zweifelsohne imposant.
    Nach Norden und Westen erstreckte sich die Savanne bis in scheinbar endlose Weiten. In der Ferne waren Wälder auszumachen und fremde Flüsse, die meilenweit entfernt lagen. Zwischen ihnen tummelten sich zahllose große Tiere, die von hier aus klein und mickrig wie Termiten wirkten. Dann, irgendwo in noch weiterer Ferne, weiter als je eine der Löwinnen des Rudels gelangt war, schien das Land im Dunst zu verschwinden. Das war das Ende ihrer Welt... Azima hatte es noch nie von nahem gesehen.
    Die junge Löwin gab sich dem Versuch hin, ein wenig Ruhe zu finden. Die Jagd lag in noch nicht all zu ferner Vergangenheit und Azima meinte noch immer das donnernde Trampeln der dutzenden Zebrahufe in ihren Ohren hallen zu hören.
    Sie verdrängte die Bilder und Laute, streckte ihre Beine aus und fand sich in einer immerhin annähernd bequemen Pose wieder. Noch einmal wagte sie den Versuch, Kisiri in ein Gespräch zu verwickeln, doch die dunkelfarbige Löwin schien einfach keine Ruhe finden zu können. Ihre Augen waren rastlos, beständig auf Wanderschaft und ihr Atem wirkte beunruhigend unregelmäßig. Nicht gerade das, was man unter einem entspannten Nickerchen verstand.
    »Ich könnte Adhama noch immer die Kehle durchbeißen, dafür, dass er uns unsere wohlverdiente Beute streitig gemacht hat«, begann Azima. Es war das erstbeste Gesprächsthema, das ihr in den Sinn kam. Über Fuadi wollte sie nicht reden. »Ach was sag ich da? Streitig gemacht. Er hat sie sich einfach genommen, gestohlen! Und wir standen dumm dreinschauend daneben.«
    Kisiris Unsicherheit ausstrahlender Blick suchte den ihrer Freundin, wandte sich jedoch auf der Stelle wieder ab, als Azima sie ansah.
    »Du solltest nicht so hart mit unserem Rudelführer ins Gericht gehen«, flüsterte sie tonlos. »Er hat uns damals gerettet, aus der Hölle, die uns Giza bereitet hat. Und außerdem...« Sie seufzte. »An dem Zebra wäre ohnehin nicht viel dran gewesen. Nicht für uns alle.«
    »Was diese Rettung angeht, kann ich natürlich nicht sonderlich gut mitreden. Aber soweit ich mich erinnern kann, war mein alter Herr nicht so eine hirnlose, aufgeblähte, widerwärtige Bestie.«
    Bei diesen Worten zuckte Kisiri zusammen, schielte in Richtung der anderen Löwinnen und hob beschwichtigend eine Pfote. Ein Zeichen, welches Azima dazu bewegen sollte, ihrer Wortwahl ein wenig mehr Feinfühligkeit hinzuzufügen oder zumindest die Stimme zu senken. Dann, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass keiner der Anwesenden eine Reaktion zeigte, warf sie Azima einen verwirrten Blick zu.
    »Ich dachte, du kannst dich nicht an die Zeit in deiner alten Heimat erinnern? Du warst doch noch so jung als sie dich fanden.«
    »Ja, richtig«, grinste Azima. »Aber wenn mein Rudelführer damals auch nur annähernd so ein mieses Stück Zebra-Dung gewesen wäre, wie Adhama es ist, wäre mir das doch sicher im Gedächtnis geblieben. Oder etwa nicht?«
    Kisiri zeigte ein flüchtiges, verwegenes Lächeln, doch Azima war deutlich bewusst, dass es ihr auf Dauer nicht gelingen würde, die Stimmung ihrer Freundin mittels einiger frecher Sprüche zu lockern.
    »Jedenfalls würde ich mir wünschen, dass Adhama etwas weniger auf sein Ego und etwas mehr auf uns bedacht ist.«
    Die Mehrdeutigkeit in Azimas Worten schien Kisiri zu verwirren. Doch sie sagte nichts. So war sie eben.
    Azima spitzte die Ohren, als sie von hinterrücks sanfte Schritte wahrnahm. Sie sah sich um und erblickte Tabasuri, die sich ihnen von der Höhle aus näherte. Die alte Löwin der ersten Generation hatte sich offenbar von dem Schock, den der Tag gebracht hatte, einigermaßen erholt, doch die Trauer um ihre verlorene Tochter stand ihr noch immer deutlich ins Gesicht geschrieben. Als sie näher kam, sprang Kisiri augenblicklich auf die Pfoten. Azima dagegen blieb gemütlich liegen und streckte ihre Hinterbeine ein weiteres Mal durch.
    Tabasuri nickte zum Gruß.
    »Kisiri?«
    »Ja, Tabasuri?«
    »Majadi-« Die Löwin hielt inne und räusperte sich. »Adhama hat Befehl gegeben, dass wir beide, du und ich, die späte Wache übernehmen sollen.« Ihr Blick glitt hinunter zu Azima. »Lass dir ruhig noch ein wenig Zeit. Ich werde schon vorgehen, etwas trinken... und Gona und Chakula wecken. Ach und wenn ihr noch einen Rat von mir entgegennehmen wollt: haltet euch bei der Hitze nicht ständig in der Sonne auf, ihr holt euch noch einen Hitzschlag.«
    »Werden wir beherzigen«, entgegnete Azima trocken und drehte sich in einer gleitenden Bewegung auf den Rücken, so dass die Sonnenstrahlen ihr helles Bauchfell streichelten.
    Tabasuri blickte ein wenig skeptisch drein. »Das sehe ich. Also gut, Kisiri, ich erwarte dich nachher am Jammerbach. Die genaue Stelle solltest du ja behalten haben.«
    Kisiri nickte und als Tabasuri sich über den Westaufgang entfernte, nahm sie zögerlich wieder Platz.
    »Weißt du was ich glaube, Ki?«, fragte Azima mit geschlossenen Augen. Ihr Bauch vollzog bei jedem Atemzug eine leichte Bewegung auf und ab.
    »Erzähl es mir.«
    »Ich glaube euer warten wir darauf, dass der Täter zum Tatort zurückkehrt-Getue wird nicht von sonderlich großem Erfolg gekrönt sein. Oder meinst du ernsthaft, diese fremde Mörderbestie spaziert mirnichts dirnichts einfach zurück zum Bach, wirft sich in Pose und gesteht in einem Anflug von aufrichtigem Schuldbewusstsein seine teuflische Tat? Wohl kaum...«
    »Erstaunlich, dass du das sagst.« Kisiri vermied nach wie vor jeden Blickkontakt.
    Indem sie ein Augenlid hochzog, musterte Azima ihre Freundin vom Boden aus. »Wieso?«
    »Weil die Idee von Majadi stammt. Und sonst ist Majadi die einzige Löwin, von der du in den höchsten Tönen sprichst und in deren Gegenwart du dich nicht wie ein... wie ein brünstiges Warzenschwein benimmst.«
    Azima atmete durch. Dann gab sie sich einen Ruck und setzte sich auf. Sie musterte die junge Löwin, die ihr gegenüber saß und verloren in die Ferne starrte mit ihren glasigen, besorgt dreinblickenden Augen.
    »Du kannst mir nichts vormachen, Ki. Irgendetwas plagt dich, das spüre ich. Etwas anderes als Fuadis Tod.«
    Azima trat näher und stupste Kisiris Hals mit ihrer Schnauze an. Kisiri erwiderte die Geste zögerlich.
    »Nein, du täuschst dich. Es ist nichts.«
    »Ki...« Sich vorbeugend suchte Azima den Blick ihrer Freundin und zum ersten Mal an diesem Tag gelang es ihr. Doch beruhigen konnte sie das nicht, denn sie sah in eine unergründlich Leere, die ihr in jeder Hinsicht fremd erschien.
    »Ich bin deine Freundin, Ki«, flüsterte Azima, beinahe flehend. »Mit mir kannst du über alles sprechen.«
    Sichtlich betrübt wandte Kisiri den Blick ab. Im nächsten Moment erhob sie sich und schritt langsam aber zielstrebig auf den Aufgang zu, den Tabasuri nur einige Augenblicke zuvor hinabgestiegen war. Ihre Worte klangen nun ungewöhnlich deutlich.
    »Du hast die alte Löwin gehört. Man wartet am Jammerbach auf mich.«
    Sie setzte ihre Pfote weiter voran, doch dann, plötzlich, hielt sie inne. Als würde sie sich mit einem Mal auf etwas besinnen. Sie kehrte wieder um, trat geschwind an Azima heran und legte ihre Schnauze unmittelbar an das Ohr der Löwin. Azima spürte das Kribbeln der Schnurrhaare und vernahm leise gehauchte Worte, die bereits im nächsten Augenblick wieder verklungen waren.
    »Morgen früh, nach Sonnenaufgang, am alten Baobab. Und erzähl niemandem davon. Hörst du, niemandem!«
    Ehe Azima zu einer Antwort ausgeholt hatte, war Kisiri bereits zurück zum Aufgang geeilt. Sie sah sich nicht mehr um.

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